Ein Tag – drei Welten

Der vergangene Sonntag hatte für mich mal wieder einen typischen Berliner Charakter: völlig unterschiedliche Lebenswelten. Wobei zwei davon unter dem Dach der Stadtmission sind und sogar zu meinem Dienstbereich gehören.

Aber der Reihe nach.

I. Vormittags war ich nach längerer Zeit endlich mal wieder in unserer Iranischen Gemeinde („Kinder des Lichts“), die inzwischen zur Jungen Kirche Berlin (JKB) Lichtenberg in deren Gemeinderäume umgezogen ist. Und: Wir feierten den inzwischen 10. Taufgottesdienst in der 2016 offiziell gegründeten Gemeinde. Inzwischen ist die Gemeinde – nach zwischenzeitlicher Krise vor ein paar Jahren – wieder auf 60 bis 70 Mitgieder gewachsen, am Sonntag waren es mit Gästen über 80 Personen, die dieses Fest miterleben wollten.

Dabei spielt die Dekoration eine ganz wichtige Rolle. Bis halb zwei in der Nacht war vorbereitet worden, unzählige liebevollste Details in typisch persischem Stil. Und dazu kam dann noch eine gigantische Tauf-Torte (natürlich in hellblau, um das Taufwasser zu symbolisieren).

Der Gottesdienst (zweieinhalb Stunden) hatte vier Teile: Begrüßung, Gebet und Lobpreis mit vielen Liedern und Bibeltexten, alles mit Begeisterung vorgetragen und gesungen.

Dann meine Predigt mit Satz-für-Satz-Übersetzung. „Ihr habt ja nicht einen Geist empfangen, der euch zu Sklaven macht. Dann müsstet ihr doch wieder Angst haben. Ihr habt vielmehr einen Geist empfangen, der euch zu Kindern Gottes macht. Weil wir diesen Geist haben, können wir rufen: Abba! Lieber Vater!“ (Römer 8). Wie sehr treffen diese Worte von Paulus in die Situation von jungen Christen, die ihre Herkunftsreligion in ihrem Heimatland nur als zutiefst furchteinflößend erlebt haben. Und nun Gott kennengelernt haben als jemanden, der sie liebt und dem sie vertrauen können.

Bei der Predigt fiel mir auf, wieviele aus der Iranischen Gemeinde inzwischen gut Deutsch können. Wenn Massoud, dem Übersetzer, mal ein Wort nicht einfiel, riefen sie ihm im Chor die richtige persische Vokabel. Sehr lustig. Insgesamt hat sich die Lebenssituation etwa bei der Hälfte der Gemeinde inzwischen sehr positiv entwickelt: Sie haben reguläre Wohnungen, Jobs und Ausbildungsplätze gefunden. Inzwischen ist aber auch der „Durchlauf“ geringer, weil weniger Menschen es schaffen, aus dem Iran auszureisen, und weil weniger von denen, die hier ankommen, dann nochmal innerhalb Deutschlands oder Europas verteilt werden. Das hilft natürlich der ganzen Community.

Der dritte Teil fand dann im Foyer statt, wo für die Taufen ein Wasserbecken und eine weitere Lautsprecheranlage aufgebaut war. Man kann kaum beschreiben, wie intensiv diese Erwachsenen-Taufen erlebt werden von Menschen, die einen völlig anderen religiösen Hintergrund haben: Was für ein Gefühl der Befreiung, das zugleich tief erschüttert und begeistert. Nach jeder Taufe wird die Musik voll aufgedreht, geklatscht und getanzt, gelacht und geweint.

Nach der Taufe waren nicht nur die Täuflinge, sondern auch wir beiden Pastoren (Stefan Rostami und ich) klatschnass, und mussten uns erstmal umziehen, bevor es zum dritten Teil der Gottesdienstes wieder in den Saal ging: Lobpreis, Fürbitten, Segen, Geschenke.

Und dann wurde weiter gefeiert, mit reichlich Essen. Das Ganze selbstverständlich von vielen Handys gefilmt und in hunderten von Fotos festgehalten.

Lebenswelt eins an diesem Sonntag.

II. Nur eine Straßenbahnhaltestelle vorher in der Herzbergstraße findet sich eine völlig andere Lebenswelt, versteckt hinter einem neuen Bürogebäude und einer Toreinfahrt: Das „Dong Xiang Center“. Schon häufig vorbei gefahren, hatte ich jetzt vor meinem zweiten Gemeindetermin noch eine Stunde Zeit, um dort endlich mal reinzuschauen.

Seit Ende der 70er Jahre wurden Vietnamesen als „Vertragsarbeiter“ von der DDR angeworben, lebten hier aber völlig isoliert in weitgehend prekären Wohnverhältnissen und als völlige Fremdlinge. Das änderte sich auch nach der Wende nicht wirklich. Wir haben ja gerade vorige Woche an das rechtsradikale Pogrom in Rostock-Lichtenhagen vor 30 Jahren gedacht. In Berlin stellt die vietnamesische Community mit heute 40.000 Angehörigen die größte ostasiatische Bevölkerungsgruppe.

Auf Wikipedia findet man folgende Gründungsstory: „Wie viele Vertragsarbeiter der DDR wurde Nguyễn Văn Hiền mit der deutschen Wiedervereinigung arbeitslos. Gleich nach der Wende machte er sich selbstständig und verkaufte Kleidungsstücke. Neue Ware kaufte er bei einem Großhandelsunternehmen in Polen. Hier traf er regelmäßig Kollegen aus Berlin. Das brachte ihn auf die entscheidende Idee, das alles künftig selbst in Berlin anzubieten. Im Jahr 2005 setzte er seine Idee eines Handelszentrums um und gründete das Dong Xuan Center. Ende der 2010er Jahre nutzten bereits Menschen aus aller Welt das reiche Angebot an Textilien, fernöstlichen Lebensmitteln sowie Dienstleistungen.“ In den Hallen des „Dong Xiang Centers“, auch „Little Hanoi“ genannt, betreiben auf einem Areal von 165.000 Quadratmetern mehr als 400 Unternehmer mit rund 2000 Mitarbeitern ihre Geschäfte. „Đồng Xuân“ ist übrigens vietnamesisch und heißt übersetzt „Frühlingswiese“. Blumen findet man aber nur im Geschenkeshop und aus „Plaste“. Gefühlt jeder vierte Laden ist ein Friseur oder Nagelstudio.

Und jetzt schaut mal, was für Fahrzeuge dort auffahren: Bentley & Co

III. Nach einer knappen Stunde Straßenbahn- und S-Bahn-Fahrt bin ich in der Bölschestraße in Friedrichshagen angekommen. Nach der Wende standen hier fast nur heruntergekomme Ruinen. Längst ist die Straße aber zu einem idyllischen und beschaulichen Ort mit hohem Wohn- und Erholungswert direkt am Müggelsee herausgeputzt worden. Und genau dort liegt die südöstlichste Stadtmissionsgemeinde in einem denkmalgeschützen Vorderhaus und einer 1997 im Innenhof gebauten Kapelle. Am Sonntag wurde dort auch gefeiert: das 25-jährige Jubiläum der neuen Räume und die Einführung des ganz neuen Stadtmissionars Frank Bruhn. Ein komplett bildungsnaher biodeutscher Kulturraum, wie man schon an der Gestaltung der Kapelle sieht.

Sehr freundliche Menschen, fast alles Akademiker. Das Offene Singen zu Beginn erfordert ein gewisses musikalisches Verständnis. Der Posaunenchor spielt im Innenhof anspruchsvolle Gospel- und Jazzstücke. Der Gemeindegesang im Gottesdienst zeugt von lauter kräftigen, geübten Singsimmen. Und den musikalischen Rahmen gestaltet schließlich ein Trio aus Geige, Klavier und Sopran mit professioneller klassischer Kirchenmusik: „Jesus bleibet meine Freude“ – von J.S. Bach.

Ein Tag – drei Welten. Und alles in Berlin!

„Freunde, dass der Mandelzweig…“

Habt ihr schon mal erlebt, wenn rund 500.000 Menschen gleichzeitig und gemeinsam eine Minute schweigen? Für mich war das der eindrucksvollste Moment an diesem Sonntagnachmittag zwischen Brandenburger Tor und Großem Stern.

Mit so vielen hatten weder die Initiatoren noch die Polizei gerechnet. Und so wurden – als die gesamte Straße des 17. Juni voll war – für all die ernsten und nachdenklichen Menschen immer neue Flächen ausgewiesen: der gesamte Große Stern rund um die Siegessäule und dann füllte sich auch noch der Tiergarten. (Die von den Behörden rausgegebene Zahl von 100.000 Teilnehmern ist ein Witz. So viele waren allein am Großen Stern unter der Siegessäule)

Kein Volksfest! Sondern eine entschlossene Demonstration gegen diesen bösartigen, durch nichts zu rechtfertigenden Krieg. Alle Generationen. Viele Sprachen. Unzählige selbstgemalte, kleine und große Plakate. Und weil wir in Berlin sind, gabs natürlich auch manches Kuriose.

Unter den vielen starken Reden, denen zugehört wurde, ragte für mich die von Luisa Neubauer (Fridays for Future) heraus. Die ist ein rhetorisches Phänomen, dem man sich kaum entziehen kann: emotional und Fakten basiert, aufrüttelnd und ermutigend. Einer ihrer Kernpunkte war natürlich, der Zusammenhang zwischen versäumtem Klimaschutz und Kriegsfinanzierung durch den bedenkenlosen Import von russischem Öl und Gas (obwohl man es besser hätte wissen können). Ich hab sie zum ersten Mal live erlebt und bin beeindruckt. Auch die vorhergehende Rede von der EKG-Ratsvorsitzenden Annette Kurschuss fand ich inhaltlich und sprachlich stark („Was hast du getan? Das Blut deines Bruders schreit von der Erde!“ https://youtu.be/f0l_MZD9SmM) . Wobei sie nicht im entferntesten so zündete. Vielleicht auch, weil in Berlin eine Kirchenvertreterin einfach nicht solche Resonanz findet.

Stark war aber in allen Reden, dass sie ausdrücklich zwischen Putin und dem russischen Volk unterschieden. Und davor warnten, sich von Gedanken des Hasses anstecken zu lassen. Immer wieder wurde auch größter Respekt vor den russischen Demonstranten ausgedrückt, die (im Unterschied zu uns) ihr Leben riskieren.

Tragisch finde ich, dass mal wieder Appeasement-Politik die Skrupellosigkeit eines Diktators völlig unterschätzt hat – und sogar seinem Narrativ von einer Nato-Bedrohung auf den Leim gegangen ist. Inzwischen sind alle seine angeblich historischen Behauptungen und Rechtfertigungen eindeutig widerlegt (z.B. in der aktuellen ZEIT: https://www.zeit.de/2022/09/wladimir-putin-russland-westen-geschichte-fernsehansprache?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F ) Aber es wird auch immer deutlicher, wie blind wir waren, und „die Verantwortung vor unserer Geschichte“ dazu geführt hat, die Gegenwart nicht wirklich ernst zu nehmen (vgl. den absolut lesenswerten Tagesspiegel-Artikel von Osteuropa-Historiker Karl Schlögel: https://plus.tagesspiegel.de/politik/osteuropa-historiker-karl-schlogel-putin-will-auch-den-westen-in-die-knie-zwingen-406693.html )

Dieser Überfall auf ein Nachbarland, so viel unsägliches und sinnloses Leid er auch noch bringen wird, wird aber zugleich der Anfang von Putins Ende sein.

Die Solidarität mit den Ukrainern (jetzt endlich, in den letzten 8 Jahren sind in der Ostukraine bereits 14.000 Menschen gestorben!) nicht nur in ganz Europa und das Umsteuern der westlichen Politik macht Hoffnung. Wer hätte noch vor wenigen Wochen die Ukraine in der „Mitte Europas“ angesiedelt?

Ob die Großdemonstration von Sonntag, ob die jetzt wieder angelaufenen vielen Friedensgebete „Erfolg“ haben werden? Ich finde, das darf nicht das Kriterium sein. Es gibt Zeiten, da darf man nicht nach Erfolg fragen, wenn es darum geht, das Richtige zu tun. Und es gibt vieles, was wir tun können, zum Beispiel auch, wenn jetzt wieder viele, viele Menschen, die vor einem menschenverachtenden Krieg fliehen, in unser Land kommen. (Wobei bekanntlich jeder Krieg menschenverachtend ist.)

Erlauben wir es Putin nicht, uns die Hoffnung zu rauben auf ein Miteinander in Frieden und Gerechtigkeit! Lassen wir seinen Hass nicht in unsere Köpfe einziehen!

„Tausende zerstampft der Krieg, eine Welt vergeht.
Doch des Lebens Blütensieg leicht im Winde weht.
Freunde, dass der Mandelzweig sich in Blüten wiegt,
bleibe mir ein Fingerzeig, dass das Leben siegt.“

Schalom Ben-Chorin, 1942!

Lost Place, Babylon, Frühling und ein trauriger Todesfall

Die Überschrift zeigt schon, dass ich euch mal wieder ein kleines Potpourri von Eindrücken zusammengestellt habe. Dabei sind die ersten drei am vorigen Wochenende auf einer Fahrradtour durch Berlin eingesammelt worden, also mal wieder eine original Berliner-Entdeckungsreise.

Sogenannte „Lost places“ gibt es in Berlin im Vergleich zu den 90er Jahren leider immer weniger, also verlassene und scheinbar verlorene Orte, abgesperrt durch teilweise löchrige Bauzäune, von Gras, Gebüsch und Birken überwuchert, mit morbidem Charme. Aber es gibt immer noch mehr davon, als in jeder anderen deutschen Millionenstadt. Teilweise wurden sie inzwischen abgerissen und neubebaut, teilweise mit genau diesem Charme als touristische Attraktion geöffnet (wie die Beelitzer Heilstätten, von denen ich im vorigen Herbst berichtet habe, oder die ehemalige Abörstation auf dem Teufelsberg). Manche aber gammeln – hermetisch abgeriegelt – im Dornröschenschlaf vor sich hin. So auch die ehemalige Irakische Botschaft in der DDR.

In den drei anderen Plattenbauten am Otto-von-Guericke-Platz in Niederschönhausen (Pankow), einem ehemaligen Diplomatenviertel mit DDR-Charme, sind inzwischen Büros eines Dachverbandes für Mittelständige Unternehmen eingezogen.

Um die ehemalige Irakische Botschaft aber kümmert sich keiner. Das Grundstück gehört der Bundesrepublik, das Gebäude einschließlich unbeschränktem Nutzungsrecht des Grundstücks aber dem Irak. Und der hat kein Interesse daran; die Botschaft residiert inzwischen in einer wunderschönen Villa aus den 20er Jahren in Berlin-Dahlem. Längst sind in Niederschönhausen die nach 1991 offen herumliegenden Akten geplündert, loses Metall verhökert, Mobiliar anderweitiger unbekannter Nutzung zugeführt ;-). Ein Brand zerstörte den Rest des Inventars.

Wir haben kein Loch im Zaun gefunden und sind auch nicht drüber geklettert, sondern haben nur davor gestanden und die Köpfe geschüttelt. Angeblich ist das Ziegel-Lochmuster im Erdgeschoss was Besonderes…

Gerade mal 250 Meter entfernt finden wir ein anderes historisches Gebäude, das Ballhaus Pankow. 1880 als „Restaurant Schloss Schönhausen“ erbaut, ist es nach seiner gründlichen Restaurierung 1995 kein lost place, sondern eine chique Veranstaltungs- und Hochzeitslocation. Allerdings zur Zeit wegen Corona auch geschlossen.

Weiter gings mit einem Abstecher zu „Alfi’s Eis“ im Flora-Kiez, wo es (unter vielen sehr guten Eiscafés in Berlin ) unserer Meinung nach das allerleckerste Eis gibt. Vor allem das „Salted Caramel“ ist dringend zu empfehlen.

Wir hatten gehört, dass an der Ecke Badstraße-Panke in Wedding-Gesundbrunnen eine neue Staffel von „Babylon Berlin“ gedreht wird, was uns natürlich neugierig gemacht hat. Wie ich jetzt gerade recheriert habe, gab es am jetzigen Drehort, der „Luisenbad- Bibliothek“, im 18. Jahrhundert eine Heilquelle mit Brunnen- und Badehäuschen und einem hübschen Park. Ein beliebtes Ausflugsziel vor den Toren des damaligen Berlin, das dem im 19. Jahrhundert dort entstehenden Quartier den Namen „Gesundbrunnen“ verliehen hat.

Industrialisierung und Straßenbau haben die Quelle damals zum Versiegen gebracht. Auf dem Nachbargrundstück direkt an der Panke entstand in dieser Zeit das Marienbad, ein Heil- und Schwimmbad mit Theater-, später Kinosaal und Restaurant als Mittelpunkt einer sich ausdehnende Vergnügungsmeile. Der Drehort, heute auf einem Hintergrundstück der Badstraße und daher akustisch vom Autolärm abgeschirmt, ist also eine historisch zutreffende Lokalität. Nur dass die Fassade für den Film jetzt für eine Synagoge umgestaltet wurde.

Das war schon hochinteressant, dort hinein zu spingsen. Offenbar war gerade Drehpause und die Schauspieler*innen und Statisten versorgten sich mit einem Imbiss. Eine optisch ganz merkwürdige Mischung von Bildern, die ziemlich genau 100 Jahre auseinander liegen. Insgesamt machte das Ganze aber auch den Eindruck, als gebe es bei Dreharbeiten häufig für die Mehrzahl der beteiligten Personen jede Menge Leerlauf. (Ich glaube, das wäre nicht meins…) Interessant übrigens auch zu sehen, wie der Drehort nach einer Seite mit einem riesigen monochrom-grünen Tuch abgeschirmt ist, wo – so vermute ich – später digital die historische Straßenflucht verlängert wird.

Extrem lustig fand ich, dass alle so weiße Schlabberlätzchen anhatten, damit bei der Essenspause die Kostüme nicht in Mitleidenschaft gezogen werden.

Um diese Fotos für euch zu schießen, hab ich übrigens mein Leben riskiert, wie man hier sehen kann 😉

Der Heimweg führte uns dann an der Panke entlang, über den Mauerstreifen und vorbei an einem Kinderbauernhof. Frühling in Berlin! Und man glaubt es nicht: Alle diese Fotos sind nicht vom Stadtrand oder aus Brandenburg, sondern mitten aus der 3,7- Millionen-Metropole. Das ist schon ziemlich einzigartig an unserer Stadt.

So, und jetzt zum traurigen Teil meines Blogs.

Wahrscheinlich ist jeder Todesfall traurig. Aber es hat mich besonders tief erschüttert, als ich am Dienstag die Nachricht erhielt, dass einen Tag vorher Sven Lager im Alter von nur 56 Jahren seiner Krebskrankheit erlegen ist.

Mit der spannenden Idee eines „Sharehauses“ für Geflüchtete und Einheimische kam er 2014 mit seiner Frau Elke aus Südafrika zurück. Dort waren die beiden weit über Berlin hinaus bekannten Schriftsteller Christen geworden – zu ihrer eigenen Überraschung und all derer, die sie kannten. Ein paar Jahre waren wir enge Weggefährten und haben zusammen für die Stadtmission das Sharehaus Refugio in Neukölln aus der Taufe gehoben. Unvergessen auch unsere Pilgerreise nach Iona in Schottland (2016), zu dritt zusammen mit Andreas Schlamm.

(Sven Lager, links, in Schottland)

Am Mittwoch durfte ich mit der Hausgemeinschaft des Refugio auf der Dachterrasse eine bewegende Abschiedsfeier erleben. So viele Menschen, auf deren persönliche Entwicklung Sven entscheidenden Einfluss hatte! Denn er konnte nicht nur jeden Menschen annehmen, wie er ist. Sondern er sah in jeder und jedem sofort auch das unglaubliche Potential. Ein Ermutiger und Beflügler!

„Jeder Mensch will ankommen“ heißt das Büchlein, das wir gemeinsam geschrieben haben (Refugio-Geschichten und Hintergründe), für ihn das letzte seiner insgesamt 9 Bücher, einige davon Bestseller. Dieses ist leider durch die unselige politische „Wir schaffen das (nicht)“-Debatte ausgebremst worden.

„Jeder Mensch will ankommen“ – ich vertraue darauf, dass Sven jetzt bei dem angekommen ist, den er über alles liebte: Jesus, dem Leben, das nie vergeht.

Krankenhaus – oder: Die Kunst des Wartens

Wer schon mal im Krankenhaus war, wird kennen, was ich hier beschreibe. Ich habe in den zurückliegenden zweieinhalb Jahren bereits mehrfach das Vergnügen gehabt. Allerdings intensiviert sich die Erfahrung, wenn man, so wie ich jetzt, am ersten Weihnachtstag „eingeliefert“ wird und wegen Corona-bedingtem Platzmangel nicht in einem privaten Zweibettzimmer, sondern „normal“ in einem Vierbettzimmer untergebracht wird. Ich möchte mich aber hier nicht über die (unterschiedliche) Qualität der Verpflegung äußern; auch nicht über die jeweilige Zimmergemeinschaft (die war grundsätzlich immer o.k.) oder die Freundlichkeit der Pflegekräfte und Ärzte (auch unter Druck immer erstaunlich positiv).

Im Krankenhaus ist man gezwungen etwas zu lernen, das im normalen Leben so intensiv nicht vorkommt: Die Kunst des Wartens.

Wenn du unter Lebensgefahr in die Notfall-Ambulanz kommst, kann alles sehr, sehr schnell gehen. Leben zu retten hat allerhöchste Priorität. Da wird (wenn irgend möglich) keine Sekunde gezögert. Das durfte ich vor eineinhalb Jahren erfahren.

Ist das aber nicht der Fall, muss man sich von allen gewohnten Zeitvorstellungen lösen. Diesmal war ich wahrscheinlich in der Ambulanz vier Stunden in einem Überwachungsraum, ohne das etwas geschehen wäre. Ich habe nicht wirklich auf die Uhr geschaut. Die Abläufe hinter den Kulissen sind für dich als Patient selten erkennbar. Und die Ansagen, wann etwas geschehen wird, selten belastbar. „Ich bin gleich bei Ihnen. Ich muss nur noch im Nebenzimmer Blut abnehmen…“. Es vergeht eine Stunde oder mehr, bis der Pfleger wieder auftaucht. Zum Frühstück die Nachricht: „Gleich werden Sie in ein anderes Zimmer verlegt“. Es wird Mittag darüber. „Morgen ist bestimmt ein Kardiologie im Haus, der Sie nochmal untersuchen kann.“ Aber „Morgen“ ist Samstag, und übermorgen Sonntag. Die Untersuchung findet also erst nach vier Tagen statt, wie immerhin am Samstag mitgeteilt wird.

Wenn man Pünktlichkeit gewohnt ist, kann man da verrückt werden. Mal abgesehen von der Frühschicht – nach begrenzt erholsamer Nacht: Exakt zwischen 5 vor und 5 nach sieben Uhr kommen die Schwestern betont vital ins Zimmer gerauscht. Volles Licht an, munteres „Guten Morgen die Herren“. Blutabnahme, Blutdruck, Sauerstoffsättigung, „Wann hatten Sie zuletzt Stuhlgang“… Und wieder raus gesaust.

Der Rest des Tages: Warten.

So und jetzt kommt die Kunst.

Eine Möglichkeit ist es, ständig auf die Uhr zu schauen. Und sich zu ärgern. Es gäbe viele Gründe sich zu ärgern. Manche Patienten tun das auch. Mir hat aber mal eine weise Frau gesagt: „Wer sich ärgert, büßt für die Fehler der anderen.“ Wobei ich vermute, das vieles im Krankenhausablauf nicht mal ein Fehler ist, sondern einfach nur anders. Also erster Schritt in der Kunst des Wartens: Nicht ärgern!

Was aber tue ich statt dessen, wenn ich nicht auf die Uhr schaue und mich eben nicht ärgere? Die Antwort ist an eine Weisheit des Apostels Paulus angelehnt: „Warten als warten wir nicht.“ D.h. ich warte zwar, aber ich beschäftige mich nicht mit dem Warten. Ich denke nicht permanent darüber nach, dass und warum ich jetzt immer noch warten muss. Jedes Jahr im Advent ist das ja eins der Themen: „Adventliches Warten“, geduldiges Erwarten. Ich finde das immer schwierig. Denn wenn ich wirklich etwas erwarte, also darauf fokussiert bin, dann bin ich auch ungeduldig. Warten als warten wir nicht, bedeutet: Das Warten läuft als Programm im Hintergrund. Im Vordergrund nutze ich die Zeit, die mir jetzt gegeben ist, Zeit, die so und nicht anders beschaffen ist. Ich tue, was ich genau hier und jetzt gut tun kann: Ich lese ein schönes Buch; ich höre mit dem Kopfhörer aufmerksam das ganze Weihnachtsoratorium von vorne bis hinten – oder ausführliche Podcasts; ich setze den Kopfhörer ab und rede zugewandt mit den Zimmergenossen. Ich stopfe mir Ohropax in die Ohren und schlafe eine halbe Stunde.  Ich schaue im Fernsehen Wintersport, wozu ich lange nicht mehr gekommen bin. „Warten, als Warten wir nicht“, ist der zweite Schritt in der Kunst des Wartens.

Aber dabei darf die Wachsamkeit nicht verloren gehen. Denn wenn ich mich vollständig den Abläufen des Krankenhauses ausliefere (oder wenn Patienten ihnen aufgrund des Alters oder der Schwere der Erkrankung und ohne Angehörige ausgeliefert sind), dann geht wirklich vieles schief, dann wird Wichtiges vergessen. Als ich am Montag nach erfreulichen Untersuchungsergebnissen entlassen werden sollte – ich müsse nur noch auf die Unterlagen warten – zog sich auch das in die Länge. Genau jetzt war es Zeit, den Kopfhörer abzusetzen, das Buch beiseite zu legen, den Fernseher auszuschalten. Aktiv zu werden, nachzufragen. Und siehe da, die Nachmittagsschicht hatte die Info nicht mitbekommen und mich da behalten, obwohl der Arztbrief längst fertig war.

  • Nicht ärgern, wenn gewohnte Zeitrhythmen nicht zählen
  • warten als warte man nicht und die (Zwischen-)Zeit nutzen
  • trotzdem wachsam bleiben und ggf. aktiv werden.

Drei Schritte, drei Dimensionen der Kunst des Wartens. Gelernt ausgerechnet im Krankenhaus.

Ich finde, das ist übertragbar auf vieles im Leben und im Glauben. Natürlich auch im Hinblick auf die Coronabedingungen, mit denen wir auch in diesem Jahr noch viel zu tun haben werden.

Für dieses neue Jahr wünsche ich euch jedenfalls Gottes Segen und gute Gesundheit.

„Vergnügt, erlöst, befreit“

Heute ist Reformationsfest. Dazu hat der ERF mich gebeten, in der Reihe „ERF Plus spezial“ einen Vortrag zu halten:

Vergnügt, erlöst, befreit

Reformation ganz anders – oder: Wie uns biblischer Humor in bissiger Zeit helfen kann.

Hier könnt ihr ihn euch anhören:

https://www.erf.de/…/vergnuegt-erloest-befreit/2295-1259

„Ich bin vergnügt, erlöst, befreit“ – der Kabarettist Hans-Dieter Hüschhat mit diesen drei Eigenschaftsworten die Skizze einer fröhlichen christlichen Gelassenheit entworfen. Das beschreibt allerdings weder die allgemeine Stimmung in der Reformationszeit vor 500 Jahren noch das heute vorherrschende Lebensgefühl – aber einen Wesenszug des befreienden Evangeliums.Der Evangelist Lukas hat im 12. Kapitel seiner Apostelgeschichte ein Meisterstück theologischen Humors serviert, das uns gerade in diesem schwierigen Jahr 2020 richtig gut tun und zu einer ganz besonderen Form von Reformation verhelfen kann.

Früher hatte man auch was drauf!

Häufig sind wir heutzutage mit dem Gefühl unterwegs, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben. Zwar nicht im Hinblick auf die Lösung der großen Zukunftsaufgaben, aber doch im Vergleich zu früher, als es noch keine Smartphones und Wetter-Apps gab, keine Gentechnik und Rußfilter, keine Social Media und Endoskopie, keine Flüge über den Atlantik und kein google-earth…

Wenn man dann aber mal Gelegenheit hat, sich genauer mit einem konkreten Abschnitt aus der Vergangenheit zu beschäftigen, ist man oft höchst erstaunt und fasziniert, was „die früher auch schon drauf hatten.“ Zum Beispiel die statischen Kenntnisse der gothischen Baumeister, die enormen Forschungsergebnisse von einzelnen Personen wie Goethe oder Alexander von Humboldt usw.. Dass wir davon überrascht, darüber erstaunt sind, spiegelt aber immer auch unsere Gegenwarts-Arroganz wieder, in der wir allzu oft vergessen, das wir als „Zwerge auf den Schultern von Riesen“ stehen. Wobei, jedenfalls was die Wissenschaft angeht, diese Riesen bei genauem Hinsehen aus unzähligen Zwergen bestehen, und die Berühmtheiten ohne die vielen kleinen „Zulieferer“ von Fragen, Forschungen und Entdeckungen auch nicht weit gekommen wären. Aber das ist ein anderes Thema.

Die Gelegenheit, uns mit einem konkreten Abschnitt aus der Vergangenheit zu beschäftigen, hatten wir vorigen Samstag beim Besuch der Beelitz Heilstätten. Jedem Berliner scheint dieser Name was zu sagen. Mir war der Ort neu, wenn auch nicht der Ortsname. Beelitz, etwa eine halbe Autostunde südwestlich von Berlin ist zunächst mal bekannt als Spargel-Stadt, weil im dortigen Umland feinster Spargel angebaut und überall in Berlin verkauft wird.

Die Beelitz Heilstätten sind (laut der webseite http://www.gestern-in-brandenburg.de/beelitz-heilstaetten-eine-wechselvolle-geschichte/ , die die gesamte Geschichte darstellt, deshalb lohnend zu lesen ist) „Lungenheilstätte für die Tuberkolosekranken von Berlin, Lazarett in beiden Weltkriegen, Zufluchtsort für Adolf Hitler und Erich Honecker, größtes sowjetisches Hospital außerhalb der UdSSR, Ort von schaurigen Verbrechen, beliebt bei internationalen Filmcrews, Fototouristen und Hobby-Abenteurern.“

In einer interessanten und lebendigen Führung durch drei Gebäude haben wir die Geschichte erzählt bekommen und sehen können.

Ausgangspunkt war die epidemische Ausbreitung der Lungenkrankheit Tuberkulose im Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Kein Virus, sondern eine bakterielle Krankheit, hochansteckend mit großen Schädigungen der inneren Organe, vor allem der Lunge, rapidem Gewichtsverlust, deshalb auch „Schwindsucht“ genannt, und häufig tödlichem Ausgang. Um 1880 hatte jeder zweite Todesfall in Deutschland im Alter von 15 bis 40 Jahren diese Ursache. In Berlin war es besonders schlimm. Denn die Stadt hatte sich durch den Industrialisierungs-Zuzug innerhalb von nur 20 Jahren von 500 Tausend Einwohnern auf weit über eine Million entwickelt, also verdoppelt. Die Arbeiterfamilien wohnten mit unzähligen Kindern in hastig errichteten Mietskasernen in winzigen, feuchten Zweizimmerwohnungen. Betten wurden teilweise tagsüber untervermietet an wohnungslose Arbeiter, die nur in Nachtschicht arbeiteten. Die Hygienebedingungen waren ebenso katastrophal wie das Essen kärglich und ungesund war. (Das ist übrigens genau die Zeit, als die Berliner Stadtmission gegründet wurde: 1877.) 1882 hatte Robert Koch das Tuberkulose-Bazillus (Tbc) entdeckt. In unserer Corona-Pandemie wird leicht vergessen, dass Tuberkulose auch heute immer noch die Infektionskrankheit mit dem höchsten Sterblichkeitsrate ist: jährlich erkranken weltweit etwa 10 Millionen Menschen pro Jahr. Nach dem Bericht der WHO starben 2015 etwa 1,4 Millionen Menschen an Tuberkulose.

Angesichts der enorm hohen Zahlen an Erkrankungen und Todesfällen gerade bei jungen Männern hatte man damals in Preußen schon Angst, bald kein Heer mehr aufstellen zu können. Heilbar oder medikamentös behandelbar war die Krankheit noch nicht. Aber was man inzwischen herausgefunden hatte war, dass eine Kur in gesunder Luft mit gesundem, nahrhaftem Essen einen erheblichen Einfluss auf einen positiven Krankheitsverlauf hat.

So wurde ab 1898 die Beelitz Heilstätte als Sanatorium für die Berliner Tbc-kranken Arbeiter und Arbeiterinnen eingerichtet. Und dabei wurde an alles gedacht:

Schöne Parkanlagen in wunderschöner Waldlandschaft für die Seele (angelegt vom königlichen Gartenbauinstpektor Karl Koopmann).

Wohnen in Doppelzimmern in schlossartigen Gebäuden des englischen Landhausstils.

Absolut reine, rauch- und staubfreie Luft für die Lungen. Der Westwind trieb den Ruß und die sonstige Luftverschmutzung Berlins in die andere Richtung, und geheizt wurde nicht mit Verbrennungsöfen in jedem Haus, sondern einem an der Südostseite gelegenen Heizkraftwerk mit Kraft-Wärme-Koppelung!).

Täglich 6 Stunden Ausruhen und „Luft-Baden“. Fünf! Mahlzeiten pro Tag, mittags mit Rotwein, abends mit Bier.

Und das Ganze direkt an der neugebauten Bahnlinie Potsdam-Jüterbog.

Die modernste Tuberkulose Heilanstalt Anfang des 20. Jahrhunderts mit 600 Betten setzte Maßstäbe. Von 1903 bis 1908 wurde die Anlage auf 1200 Betten erweitert und umfasste dann 60 Gebäuden auf einer Gesamtfläche von ca. 200 Hektar. Das Gesamtgelände wurde in vier Areale unterteilt, die streng voneinander getrennt waren nach zwei Kriterien: a) Hochinfektiöse Tuberkulose Patienten – nicht-ansteckende sonstige Krankheiten (Stoffwechsel, Verdauung, Herz); b) Männer – Frauen. Während a) medizinisch bis heute absolut sinnvoll ist (Quarantäne), entspricht die andere Trennung nun gar nicht mehr unserer Kultur.

Jedenfalls ermöglichte die neu gegründete Krankenkasse der Landesversicherungsanstalt bitterarmen Menschen eine dreizehnwöchige Kur an diesem wunderbaren Ort. Die Heilungsquote lag bei immerhin 80 %.

Das Areal des früheren Frauensanatoriums wurde nach dem 2. Weltkrieg bis 1994 als sowietisches Krankenhaus verwendet. Ein großer Teil aber verfiel während der DDR-Zeit, unter anderem mit dem spannenden Ergebnis einer Dachbegrünung ganz eigener Art auf dem sogenannten „Alpenhaus“ (so genannt, weil durch den Bauaushub hier Hügelchen entstanden waren).

Die Sanierung der denkmalgeschützten Gebäude kam 2001 zum Erliegen durch den Konkurs der Eigentümergesellschaft und anschließend, als das Ganze nicht mehr bewacht wurde, durch wilde Parties, Wandalismus, Schrottdiebe usw.

Inzwischen wird aber von Süden an Stück für Stück saniert und u.a. in schicken Wohnraum verwandelt.

Der Nordwestteil ist zum Freiluftmuseum geworden, über das ein weitläufiger, um die 20 Meter hoher Baumwipfelpfad führt. Eine Attraktion für die ganze Familie. (Ein ziemlich Corona-geeignetes Ausflugsziel, wenn auch auf dem Aussichtsturm grenzwertig voll.)

Wir haben jedenfalls den herrlichen Herbsttag mit buntem Laub und frischer, klarer Luft in dieser beeindruckenden Umgebung sehr genossen. Und uns ist mal wieder recht bewusst geworden: Früher hatte man auch was drauf!

Ein Traum-Tag auf Spree und Havel

 

Darf ich vorstellen? Das ist Agathe. Sie ist ein 11  Meter langes Motorboot, beileibe kein Rennboot, sondern ein altes, gemütliches Schiffchen, das mit maximal 12 Stundenkilometern über Binnengewässer tuckern kann und sogar auch küstennah übers Meer – so groß ist sie immerhin. Agathe gehört Siegfried und Anke, Berliner Freunden, die ganz in der Nähe wohnen. Am Samstag haben wir vier mit Agathe einen wunderbaren Tag auf den hiesigen Gewässern zugebracht.

Berlin ist ja nicht nur die grünste Stadt, die man sich vorstellen kann, sondern mit all ihren Flüssen, Kanälen und Seen auch ausgesprochen wasserreich. 960 Brücken hat Berlin aufzuweisen. Was sind dagegen die läpschen 400 Brücken in Venedig?

Die übliche Innenstadttour zwischen Nikolei Viertel und Moabit haben wir in den letzten Jahren schon häufig mitgemacht, zum Teil ja auch mitgestaltet in Form unseres Stadtmissionsprogramms „Mit Gott auf der Spree“. Diesmal aber sollten wir noch ganz andere wasserseitige Perspektiven auf Berlin gewinnen. Und: an diesem Tag wollten Siegfried und ich auch ein wenig Phantasie entwickeln, wie Agathe vielleicht auch mal missionarisch unterwegs sein könnte. Immerhin hat Agathe mit der Heiligen Agatha von Catania  eine berühmte Namenspatronin (geboren um 225 auf Sizilien; um 250 dort als Märtyrin gestorben), deren grausiges Schicksal ich hier aber nicht erzählen will.

Unsere gemeinsame Fahrt begann am Bootsanleger der Greenwich-Promenade in Tegel und führte durch den Tegeler See mit seiner verwirrenden Inselwelt, den Hohenzollern-Kanal nach Osten bis zur Schleuse Plötzensee, dann durch den Westhafen- und den Charlottenburger Kanal in die Spree, ein Stück Richtung Moabit und dann wieder zurück und immer weiter nach Westen, bis sie in der Spandauer Altstadt in die Havel mündet. Weiter gings Havel-abwärts; die fließt hier nämlich aus der Nähe der Müritz kommend immer noch nach Süden, bevor sie in Potsdam nach Westen und in Brandenburg wieder nach Norden abbiegt, um vor Wittenberge schließlich in die Elbe zu münden.

Wobei die Havel hier in und um Berlin fast immer eher wie eine Seenkette und weniger wie ein Fluss wirkt. Unser südlichster Punkt war die Havel in Form des Jungfernsees mit der Glienicker Brücke bevor wir zurück zum Inselchen Lindwerder als unserem Wasserweg-Ziel ging. Unsere Heimfahrt nach Waidmannslust im Berliner Norden ging per Bus und S-Bahn, während Siegfried und Anke dort geankert und auf Agathe übernachtet haben.

Berlin von der Wasserseite bietet sehr abwechslungsreiche Perspektiven. Manchmal wechseln sich kurz hintereinander Industrieanlagen, idyllische Uferstreifen, ruppige und schöne Berliner Altbauten und kleine Stückchen Wildnis als sei man irgendwo auf einem fernen Kontinent aneinander.

 

Das Kraftwerk Reuter West sehen wir auch von unserem Balkon. Aber von Nahem macht diese Anlage mit dem gigantischen Kühlturm natürlich einen ganz anderen Eindruck.

Interessant sind natürlich auch die unterschiedlichen Menschen am Ufer und auf dem Wasser zu beobachten: Die Yoga Ausübende, die Sonnenbadenden, die Obdachlosen, die Ausflügler, die Paddel-Board übende Frauengruppe.

Cool war, dass Christiane und ich auch jeweils eine Weile ans Ruder durften. Das ist gar nicht so einfach, weil man anfänglich total Zickzack fährt. Es dauert halt einen Augenblick, bis dass Boot reagiert und ebenso, wenn man dann (zu stark) gegenlenkt.

Schleusendurchfahrten sind natürlich auch ein Erlebnis, vor allem, wenn man noch keine Übung hat im Auswerfen und Nachziehen der Leinen oder im Befestigen der Fender. Bisher kannte ich Fender nur als Gitarrenmarke. Jetzt weiß ich: Es sind auch die Päckchen oder Ballons, die man außen an die Reling hängt, um den Schiffsrumpf beim Anlegen zu schützen.

Ein Päckchen nennt man es aber auch, wenn zu wenig Anlegestellen vorhanden sind, und dann mehrere Boote oder Schiffe aneinander festmachen müssen. So ergings es uns zum Schluss an Lindwerder, wo wir die ersten am letzten freien Anleger waren und sich noch ein kleines Segel und ein Motorboot an Agathe anhängten.

Solche Manöver passieren in freundlich-hilfsbereitem Miteinander. Die Freizeit-Boot-Fahrer sind schon eine ganz eigene Community. Wobei es da natürlich auch solche und solche gibt. (Berliner Spruch: „Et jibt sonne und sonne – un dann noch janz andere. Un die sin die Schlümmsten.“) Da kommt ein friedlicher Skipper (=Bootsführer) schon mal ins Schimpfen, wenn zwei Motorboote zwischen Agathe und einem Ausflugsdampfer noch ein Wettrennen machen müssen.

In der Havel kamen wir natürlich an einigen Ausflugszielen vorbei, die wir früher landseitig schon mal besucht hatten:

Der Teufelsberg mit seinen verrottenden Radaranlagen aus der Zeit des Kalten Krieges.

Der Grunewald-Turm und davor ein idyllisches Waldufer (vgl. Blog vom 1. November 2019)

Pfaueninsel mit ihren Schlösschen im Ruinenstil,

Die eindrucksvoll gelegene Heilandskirche am Port von Sacro, nach Entwürfen des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm IV. 1841-43 gebaut.

Das Strandbad Wannsee mit seiner langen Gebäudereihe mit Umkleidekabinen, Sanitäranlagen, Strandkorbverleih usw. („Pack die Badehose ein“)

und eben der Glienicker Brücke, über die zu DDR-Zeiten die Ost-West Übergabe von Personen erfolgte, und dahinter Schloss Babelsberg.

Den ganzen Tag über war herrlichstes Wetter, den wir zum Schluss auf Lindwerder noch mal gebührend finalisiert haben.

Dies ist jetzt ja mein erster Blog nach langer Pause. Zunächst bedingt durch die berufliche Doppelbelastung bei der Berliner Stadtmission als Dienstbereichsleitung Mission und (Kommissarische) theologische Gesamtleitung und dann nahtlos ineinander übergehend der Beginn der Corona-Zeit, die uns natürlich auch extrem herausgefordert hat. Inzwischen ist unser neuer Direktor Dr. Christian Ceconi an Bord und ganz gut eingearbeitet. Und auch Corona-mäßig hat sich vieles eingespielt. Davon will ich aber hier jetzt nicht berichten. Aber wer Interesse hat, kann sich hier unsere „druckfrische“ Jahrespublikation anschauen mit knappen Informationen und vielen beeindruckenden Fotos. https://www.berliner-stadtmission.de/aktuelles/das-143-jahr-unsere-neue-jahrespublikation-ist-da

Übrigens, Siegfried und ich hatten wirklich einige Ideen, wie Agathe stadtmissionarisch wirken kann. Aber das verrat ich noch nicht.

Ich sehne mich nach Frieden

9.November, Schicksalstag der deutschen Geschichte.
In diesem Jahr erinnern wir uns schwerpunktmäßig an den Fall der Mauer vor 30 Jahren. In Berlin läuft die ganze Woche an vielen Orten ein spannendes Programm. Und viele Gebäude werden mit beeindruckenden Videoprojektionen angestrahlt, die die Ereignisse von damals in die Gegenwart holen. Auf der modernen Fassade des neuerrichteten Stadtschlosses / Humboldforums wird nicht nur die Außenansicht des „Palastes des Repuplik“ wieder sichtbar, der genau hier stand, sondern der thematische Bogen wird bis heute gezogen zu fridays for future und aktuellen Fragen von Demokratie.img_20191108_185332_resized_20191108_081542711.jpg
„30 Jahre friedliche Revolution“ stellen auch die Frage nach der Friedlichkeit heute. Die Jahreslosung der Christen heißt ja „Suche den Frieden und jage ihm nach“.
Meine Gedanken dazu habe ich in einem Poetry ausgedrückt. Beim Gospelprojekt, von dem ich im vorigen Blog erzählt habe, kam dieses Poetry erstmals zur Aufführung: auf den Treppen des Berliner Doms.
Unser Artrejo-Filmteam hat daraus ein youtube-Video gemacht:

Den vollständigen Text findet ihr hier weiter unten nach den Fotos von Großprojektionen. Ich würde mich sehr freuen, wenn ihr das fleißig mit anderen teilt.

IMG_20191108_191449_resized_20191108_081543973

IMG_20191108_191636_resized_20191108_081543738

Ich sehne mich nach Frieden                                Poetry von Gerold Vorländer

Ich sehne mich nach Frieden
für mich selber und für die ganze Welt,
ich hätte ihn schon längst bestellt
irgendwo im Internet.
Das wär‘ doch echt nett,
wenn das so einfach wär‘:
Geklickt, bestellt, schon kommt der Frieden her.

Suche Frieden, das hört sich so leicht an.
Ist aber mega schwer. Denn von allein kommt der nicht her.
Vielmehr kommt der Streit von ganz allein, mischt sich ein, ohne dass man will.
Überall.

Überall fallen Menschen übereinander her.
Sie sagen: Die anderen glauben anders.
Die anderen haben mehr.
Die anderen sind böse. Die anderen müssen bestraft werden.
Wir wollen sie loswerden.
Und so schmieden sie Waffen.
Werfen Bomben oder Brandsätze oder Steine.
Sie schießen mit Gewehren und Raketen
und schießen auch mit Worten.

Doch Frieden fängt nicht irgendwo an.
Sondern hier, bei mir und dir.  Wir!
sind dran, wir! sind gefragt,
nicht mit dem Finger auf andere zeigen,
sondern Haltung zeigen,
Brücken bauen und Hände reichen
zwischen Gleichen und Ungleichen.

Ich jedenfalls will keinen Krieg
und keine Mauern mehr.
Die in Berlin ist ja Gott sei Dank
seit fast 30 Jahren nicht mehr da,
Aber immer noch in Korea und Palästina und demnächst womöglich in den USA.
Und in den Köpfen.
Da wachsen grade Mauern schneller als du gucken kannst.
Wachsen aus dem Nährboden der Angst.

Aber ich will den Frieden suchen und ihr, hoff‘ ich, auch.
Will die Angst in ihre Schranken weisen.
Und den Frieden suchen.
Vergiss mal kurz die Welt
und all die miesen, fiesen News, die dich runterziehen.

Denn Frieden fängt nicht irgendwo an.
Sondern hier, bei mir und dir. Wir!
sind dran, wir! sind gefragt,
nicht mit dem Finger auf andere zeigen,
sondern Haltung zeigen,
Brücken bauen und Hände reichen
zwischen Gleichen und Ungleichen.

Und glauben!
Glauben, dass es möglich ist.
Glauben, dass nicht die Hetzer das letzte Wort behalten.
Dass die kalten,
harten Herzen,
die den Krieg als Mittel lieben
den Erfolg nicht kriegen, nicht siegen.
Sondern unterliegen.

Frieden fällt nicht vom Himmel.
Frieden muss auf Erden wachsen.
Doch der Himmel mischt sich ein
und will Mut zum Frieden geben.
Gott will den Frieden und nicht den Krieg.
Gott will Versöhnung und nicht den Hass.
Gott will offene Hände und nicht stampfende Soldatenstiefel.
Gott will Wahrheit, die das Leben schützt
und nicht – in Lüge verdreht – immer nur den gleichen,
den Mächtigen und Reichen,
den Frechen und Dreisten nützt.

Dem Frieden hilft es nicht
zu twittern und zu texten
zu schimpfen und zu hetzen,
die Gegner auf die Abschussliste zu setzen.

Dem Frieden hilft es,
miteinander zu reden,
zuzuhören statt zuzutexten
und fragen, fragen, fragen,
verstehen wollen
und nicht locker lassen,
sich nicht  frustrieren lassen,
sondern immer wieder nachfassen.

Denn Frieden fängt nicht irgendwo an.
Sondern hier, bei mir und dir.  Wir!
sind dran, wir! sind gefragt,
nicht mit dem Finger auf andere zeigen,
sondern Haltung zeigen,
Brücken bauen und Hände reichen
zwischen Gleichen und Ungleichen.
Frieden fängt nicht irgendwo an.
Sondern hier, bei mir und dir!

IMG_20191108_200349_resized_20191108_081542894

„Kerzen-Revolution“

Natur und Kultur – ein bunter Herbst

Der Herbst steht unter anderem für bunte Wälder und – von Fotographen und Malern geliebt – klare Luft und intensive Farben. Von meinem kleinen Zuhause-Schreibtisch habe ich einen wunderbaren Blick über Lübars bis weit ins Mühlenbecker Land (Siehe Titelfoto). 13. Stock hat was! Jedenfalls, was die Aussicht angeht, ist es einfach toll, jeden Tag wieder neu. Allerdings nicht, wenn – wie heute abend – beide Aufzüge ausfallen. Obwohl: Das ist dann Kardiosport…

Klare Luft und intensive Farben und das bei bis vor kurzem immer noch sehr milden bis richtig warmen Temperaturen gab es für uns jede Menge. So zum Beispiel bei einer wunderschönen Oktober-Sonntags-Wanderung am Wannsee.

Oder im sogenannten „Friedhof der Selbstmörder“ im Grunewald. Bis ins 20. Jahrhundert war ja die Beerdigung von Menschen auf kirchlichen Friedhöfen verboten. Durch den Knick der Havel wurden aber hier in der Nähe viele Freitod-Leichen angespült. Die Grundwald-Förster fanden eine Lösung, indem sie einen eigenen Friedhof für diese Verstorbenen anlegten. Die erste dokumentierte Beerdigung dieser Art war im Jahr 1900. Bald sprach sich das herum, und Angehörige brachten selbst Suizidale hierher. Nach 1945 wurden zivile Opfer des 2. Weltkrieges hierhin umgebettet und wenig später entwickelte sich dieser inzwischen mit Mauer und Kapelle versehene idyllische Ord zu einem „normalen“ kommunalen Friedhof.

 

2018 aber beschloss der Bezirk, keine weitere Beerdigungen mehr zuzulassen. (Schade eigentlich, oder?)

 

Von der Natur zur Kultur:

Eine Entdeckung war für uns die „Nacht der offenen Ateliers“ in den „Weddinger Gerichtshöfen“, einem Gewerbegebäudekomplex vom Anfang des 20 Jahrhunderts an der Gerichtstraße – daher der Name. Das Kunstquartier ist mit gut 70 Ateliers inzwischen eines der größten in Deutschland. An diesem Abend war der Innenhof schön geschmückt, mit Infotisch und Fressbude. Und es gab ausgezeichnete Führungen durch ausgewählte Ateliers. Moderne Kunst mit hoher Qualität und sehr gut vermittelt. Mehr als ein Geheimtipp.

Ein ganz besonderes Erlebnis war im Rahmen des „Festival of Lights“ in der dritten Oktoberwoche die Projektion an die Fassade des neuen Eingangsgebäudes zur Museumsinsel (Architektur von David Chipperfield). Einfach phantastisch, was Computer-Kunst heute darstellen kann: Eine ständige Metamorphose von Bildern und Farben untermalt mit warmen Klängen. Hier ein paar Eindrücke:

 

Kunterbunt ist es auch im „Textilhafen“ der Berliner Stadtmission. Diese neue Einrichtung in der Storkowerstraße beherbergt eine große Halle zur Kleidersortierung.

Dabei geben wir keine Reste mehr an fremde Textilverwerter weiter, weil sich deren Konzepte nicht mit unseren Werten deckt, wie sich im vorigen Jahr herausstellte. Statt dessen gibt es hier – außer einem normalen Second Hand Shop – Raum für kreative, lokale Textilwirtschaft; zum Beilspiel mit dem großen Webstuhl oder dem Aktionskoffer „Wir sticken das Grundgesetz“.

Wir möchten in der Berliner Stadtmission zunehmend auch Denkanstöße geben und Handlungsalternativen aufzeigen. Und das nicht nur in der Kältehilfe, die heute Nacht wieder ihre Arbeit aufnimmt.

Zuletzt zwei besondere Aktionen der Berliner Stadtmission, die ich nicht beschreibe, weil es dazu zum einen ein schönes kleines Video unseres Artrejo-Filmteams gibt, zum anderen einen höchst anschaulichen Beitrag auf unserer Homepage.

Am 28. September haben wir auf den Treppen des Berliner Doms ein Gospelprojekt durchgeführt unter dem Thema „Suche Frieden“:

Und dann vor wenigen Wochen der „Ball der Gemeinschaft“, der erste Ball für Obdachlose und andere Menschen in der City Station. Lest den Beitrag von Anna-Sophie Gerd:

https://www.berliner-stadtmission.de/aktuelles/ball-der-gemeinschaft/994466c705d10af36c4bbd739567d196

portrait zweier Tanzenden

Und damit wünsche ich euch einen angenehmen Start in die dunkle Jahreszeit.

 

Große und kleine Auditorien, die Kunst zu fragen und neue Aufgaben

Es wird – nach einem halben Jahr Sendepause – höchste Zeit, Euch mal wieder ein wenig auf den Stand der Dinge zu bringen. Denn es hat sich viel getan. Der Titel verrät schon die drei Abschnitte:

1. Große und kleine Auditorien:

Im ersten Halbjahr hatte ich eine ganze Reihe von Vorträgen und Gastpredigten, die mich an verschiedene Orte führten. Es begann mit einer Predigt zur Eröffnung der Allianz-Gebets-Woche in Celle. Die große Baptisten-Kirche war wirklich gefüllt mit über 200 aufmerksamen Zuhörern, denen ich – wie die Rückmeldungen zeigten – mit meinen Gedanken zu Epheser 4 richtig was zu kauen gegeben habe: Ein Leib und ein Geist, eine Hoffnung in eurer Berufung, ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller – zeigt uns die 7 Säulen der Einheit, die vor allem gewagt werden muss, bevor man sie feiern kann.

Eine ganz besondere Veranstaltung war der „upgrade“- Kongress des Gnadauer Verbandes im März in Willingen (Sauerland) mit gut 3000 Teilnehmenden. Neben Aufgaben als Anwalt des Publikums und zwei Workshops hatte ich da in einem Teilplenum mit über 1000 Zuhörern einen von drei Kurzvorträgen.

Auch hier ging es um die Einheit. Meine Aufgabe war es, die geistliche Grundlage dafür  aufzuzeigen, weshalb gerade die Einheit der Unterschiedlichen aus biblischer Perspektive geboten ist und die „Homophilie“ als Liebe zu nur Gleichgesinnten eine große Gefahr darstellt. Verdeutlicht habe ich das an drei Bildern. Den Vortrag (zusammen mit den beiden anderen von Torsten Diez, Hochschule Tabor und Tobis Faix, CVJM-Hochschule) könnt ihr euch hier anschauen: https://www.youtube.com/watch?v=9yziDe0VLxg&feature=youtu.be (ab Min 14:46)

Von der Berliner Stadtmission haben über 50 beruflich und ehrenamtlich Mitarbeitende mit großem Gewinn an diesem Kongress teilgenommen.

Mein kleinstes Auditorium war am 16. Juni in der historischen Kirche in Buckow (bei Brandenburg Havel). Meine Predigt „Qualifizierte Minderheit“ richtete sich an die ca. 20 Engagierten aus mehreren kleinen Landgemeinden, die meisten von ihnen verbunden mit dem Netzwerk „Marburger Kreis“ und zum Teil bewusst aus dem Westen dorthin gezogen, um dort in Brandenburg geistliches Leben nicht gänzlich abreißen zu lassen.

Vorher gab es noch drei Hauptvorträge auf der Freizeit der großen, lebendigen und ziemlich bekannten Auferstehungsgemeinde Mainz (in Dorfweil im Hochtaunus) zum Thema „Christsein in einer verrückt gewordenen Welt“. Und direkt vor dem Start in den Sommerurlaub ein Podium beim Kirchentag in Dortmund zu „Gottesdienst als Event – Gemeinde auf Zeit“. Dabei hat diese „Band“ (Foto) hier mitgewirkt (ich hab mir den Namen leider nicht gemerkt) mit einer spannenden Kombi: Worship-Songs mit klassischen Instrumenten Streicher, Flöte, Oboe, Klavier,Gesang. Hatte ich so noch nie gehört. Das klang sehr charmant.

Ich muss schon zugeben, dass es etwas Besonderes ist, vor einem großen Auditorium zu sprechen – und auch besonders intensiver Vorbereitung bedarf. Aber die ganz kleinen, persönlichen Formate wie in Buckow oder auch in manchen unserer Stadtmissionsgemeinden finde ich genauso kostbar.

2. Die Kunst zu fragen

Von November bis Juni habe ich bei der Berliner Coaching Akademie die Ausbildung zum „Systemischen Business Coach“ gemacht. Höchst intensive Monate, wo ich zum Glück für die entsprechenden Blockwochen bei der Stadtmission freigestellt war und auch sonst durch mein tolles Team sehr gute Entlastung hatte. Systemisch heißt vor allem zweierlei: 1. Lösungsorientiert, und 2. Der „Klient“ ist Experte für seine Lösung. Daraus ergibt sich eine hoch spannende Methodik, die vor allem darauf beruht, die richtigen Fragen zu stellen. Also Fragen, auf die der Gesprächspartner kaum selbst kommen würde. Bzw. auf eine Art intensiv nachzuhaken, wie man es sich selbst gegenüber einfach nicht kann („..das ist ne gute Frage…“) . Klassisches Beispiel, das ich inzwischen schon unzählige Male zitiert habe:

Klient: „Ich möchte mich nicht mehr so viel mit meiner Frau streiten.“ – Coach: „Was möchten Sie denn statt dessen?“

Ich habe diese Monate dreifach genossen:
Erstens: Ich liebe es zu lernen (nach wie vor).
Zweitens: In der 12köpfigen Studiengruppe hatten wir innerhalb kürzester Zeit ein solches Vertrauen zueinander, dass wir uns trauten, gerade die „Interventionen“ in der Kleingruppe zu üben, wo man vorher wusste: Das krieg ich jetzt wahrscheinlich nicht wirklich hin. Wenn kein Vertrauen da ist, fühlt man sich doch immer genötigt, keine Schwächen zu zeigen. Aber das war hier anders. Und in den vielen gegenseitigen Coachings in unterschiedlichen Dreiergruppen (Klient, Coach, Feed-Back-Geber bzw. Beobachter) haben wir zum Teil persönlichste Fragestellungen offenbart und fruchtbar bearbeitet. Ich finde, das war ein ganz besonderes Geschenk. Wir versuchen uns jetzt auch noch weiter einmal im Monat zu treffen.
Drittens: Das was ich in dieser Zeit gelernt habe, kann ich ausgesprochen gut gebrauchen. Und zwar sowohl in der Personalentwicklung mit meinen Mitarbeitenden als auch für die Gesamtentwicklung der Berliner Stadtmission und bei Beratungsaufgaben außerhalb.

:

Und damit komme ich zum dritten Teil:

3. Neue Aufgaben

Stadtmissionsdirektor und Theologischer Vorstand Joachim Lenz hat beschlossen, seinen bis Dezember laufenden 5-Jahres-Vertrag nicht zu verlängern, sondern noch einmal zu anderen Ufern aufzubrechen. Dabei hat das Kuratorium ihm zum Abschied noch ein dreimonatiges Sabbatical gegönnt, sodass er ab Mitte September nicht mehr aktiv im Dienst ist, Außerdem hat sich mein geschätzter Kollege auf der zweiten Leitungsebene für Bildung, Andreas Schlamm, von der EKD abwerben lassen, um dort ab dieser Woche den 2. Zukunftskongress (nach 2014) zu organisieren. Der findet schon im September 2020 statt. Extrem wenig Zeit, um das alles auf die Beine zu stellen. So kam sein Abschied von der Stadtmission ziemlich überraschend. Nun ist im letzten viertel Jahr auch schon unsere langjährige Pressesprecherin in ihren wohlverdienten Ruhestand gegangen, und die Leiterin der Finanzabteilung hat in den Vorstand des Roten Kreuzes Berlin-Brandenburg gewechselt (nachdem sie bei uns länger dabeigeblieben war als in jeder ihrer Stellen vorher). Das alles zusammen löst verständlicherweise bei vielen Mitarbeitenden große Irritationen und Verunsicherung aus, und manche haben mich schon bang gefragt, ob ich denn wenigstens bliebe. Wobei die Situation bei genauem Hinsehen zwar nicht toll, aber auch nicht bedrohlich ist. Haben wir doch in den letzten Monaten andere hochqualifizierte neue Mitarbeitende gewinnen können.

Als ich vor drei Wochen aus dem Urlaub kam und mich auf relativ ruhige Arbeitswochen während der Sommerferien freute, wurde ich also von einigen Dingen überrascht. Jedenfalls auch davon, dass mich das Kuratorium (sozusagen der Aufsichtsrat der Stadtmission) gebeten hat, die wichtigsten Aufgaben des theologischen Vorstandes bis zur Wiederbesetzung zu übernehmen. Ich fühle mich durch das Vertrauen geehrt und habe für die kommissarische Vertretung zugesagt. Denn einerseits passt mein Aufgabenportfolio als Leitung des Dienstbereichs Mission viel besser zu meinem Gabenspektrum als die reine Vorstandsarbeit. Andererseits kann ich wohl jetzt gerade in dieser Situation sowohl zur Beruhigung der Gemüter beitragen als auch dabei helfen, dass dringende Entwicklungsschritte der Stadtmission jetzt nicht zur Hängepartie werden. Wie lange diese Zwischenzeit sein wird, kann man jetzt noch nicht sagen. Ich habe zwar Respekt vor den neuen Aufgaben, bin aber zugleich gespannt und zuversichtlich.

Zum Schluss will ich euch noch vier – wie ich finde – besonders schöne Fotos aus unserem Urlaub in Kroatien zeigen.