… da denkt jeder, der Berlin ein wenig kennt, an den „Karneval der Kulturen“. Und in der Tat, das ist von Freitag bis Montag das Riesen-Event. Dem kann man sich allerdings – anders als in den Tollen Tagen in Köln – hier selbst innerhalb der Stadt leicht entziehen. Denn Pfingsten in Berlin, das bedeutet zunächst mal raus ins Grüne, zu den vielen Parks, Grünanlagen, Wasserläufe und Seen. Wohlgemerkt alles innerhalb der Stadtgrenzen.
Der Karneval der Kulturen findet ausschließlich in Kreuzberg statt und in den entsprechenden U- und S-Bahnlinien zum Halleschen Tor und Mehringdamm. Hier zwischen Blücherplatz und Zossener Brücke startet am Freitagabend die Mega-Straßenparty mit unzähligen Fressbuden, ein bisschen Kirmes und vor allem Livemusik auf vier Bühnen. Tolle lateinamerikanische Bands, die die berliner Latinos und Latinofans anziehen, machen Musik, die in die Beine geht . Die jungen Leute sind ganz klar in der Überzahl, aber nicht unter sich. Bei der Berliner Balkanrock-Band „Polkageist“ hüpfen und tanzen alle Generationen. Ziemlich abgedreht und passend zum intensiv süßlichen Geruch vieler selbstgedrehter Zigaretten. Fast jeder hat eine Bierflasche in der Hand, Schärferes sieht man aber eher selten. Die Stimmung ist insgesamt ziemlich entspannt, jedenfalls so gegen 21 Uhr. Zwei Stunden später, als es noch voller wird und der Alkoholspiegel langsam, aber stetig steigt, werde ich mich vom Acker machen.
Den Blick einmal geschärft, sehe ich auch, was „Karneval der Kulturen“ für die Menschen bedeutet, die am Rande der Gesellschaft ums Überleben kämpfen: Immer wieder begegne ich Männern und Frauen, die Mülleimer durchsuchen und die achtlos weggeworfenen Bierflaschen aufsammeln, um später das Pfand einzulösen. Dieses Wochenende ist auch für sie lukrativ, jedenfalls, wenn sie nicht nur zwei Taschen haben, sondern vielleicht sogar einen ganzen Einkaufswagen, den sie bis oben hin bepacken. Mir fallen Bilder aus den Squatter-Camps in Soweto ein.
Die „Eurasia-Bühne“ steht direkt neben der neogotischen Ev. Heilig-Kreuz-Kirche, die passend zu ihrem Gemeindeprofil auch in diesen Tagen ein begleitendes Kulturprogamm fährt.
Innen ist dieses eindrucksvolle Gebäude mit geschickt eingebauten, hochmodernen Treppen und Emporen, einem weitläufigen Foyer mit Begegnungsräumen und modernster Veranstaltungstechnik ein – wie ich finde – ausgesprochen gelungenes Beispiel dafür, wie eine alte Kirche zu einem höchst attraktiven Raum für das 21. Jahrhundert gestaltet werden kann (wenn man entsprechend viel Geld in die Hand nimmt; danach sieht es jedenfalls aus). Das zeigt jedenfalls Wirkung.
Ich muss gleich an die neu gebaute Immanuel-Kirche in Köln-Stammheim denken und daran, wie viele Menschen dieses Gebäude im vergangenen Jahr seit der Einweihung angezogen hat. Und ich muss zugleich an die diversen Räumlichkeiten der Stadtmissionsgemeinden denken, von denen die meisten (zum Glück nicht alle) einen ziemlich verstaubten, bürgerlichen Second-Hand-Charme haben. Als Heimat für die unendlich Treuen und Herberge für die Hilfesuchenden ist das in Ordnung. Und stärkt bei betuchteren Schichten vielleicht eine Schlechtes-Gewissen-Beruhigungs-Spendenbereitschaft“. Aber um moderne Berliner aus der Mitte der Gesellschaft für den Glauben zu interessieren, braucht es auch entsprechende Räume.
Angesichts der ziemlich angespannten Finanzlage bei der Berliner Stadtmission macht mir da meine zukünftige Aufgabe einer entsprechenden Weiterentwicklung unserer St. Lukas-Kirche am Anhalter Bahnhof (zwischen Kreuzberg und Regierungsviertel) erhebliches Kopfzerbrechen. Die einzige „richtige“ Kirche der Stadtmission lädt am Pfingstsonntag ab 19 Uhr auch zur Offenen Nacht der Kirchen ein. Auch das ist nämlich mit „Pfingsten in Berlin“ verbunden. Stadtmissionar Stefan Seidel und sein Team haben alles sehr liebevoll gestaltet, den Raum, die stündliche Andacht. Aber es sind nur ganz wenige Menschen gekommen. Und die meisten von ihnen gehören zum Dunstkreis der Gemeinde. Und ich wüsste auch nicht so recht, wen ich abgesehen von „Sympathisanten“ einladen wollen würde. Obwohl die besondere Dekoration und Beleuchtung der Kirche einen ganz anderen Flair vermittelt als bei Tageslicht und die freundliche Gastfreundschaft auch durch den Magen geht, wirken Musik und Texte ziemlich „insiderig“. Aber wie und wohin ist das zu ändern?
Zu unserem „1. Berliner Currywurst-Gottesdienst“ am Pfingstsonntag um 11 Uhr sind immerhin knapp 80 Menschen gekommen. Open Air im Innenhof des „Zentrums am Hauptbahnhof“ (ZAH) bei strahlend blauem Himmel und dem Geruch des Grillfeuers bietet dieser Raum ein ausgesprochen attraktives „Pfingst-Ambiente“. Und, obwohl wir eine deutlich höhere Teilnehmerzahl erhofft hatten, sind doch jedenfalls einige unter ihnen, die zum ersten Mal hergefunden haben – und begeistert sind!
Die Atmosphäre, die Musik (die ich zusammen mit vier Jungen Erwachsenen, die hier wohnen, gestaltet habe), die Predigt und die ausgesprochen leckere Currywurst, die unser Koch Willy im Anschluss zauberte, das alles hatte einfach eine Qualität, die nötig ist, um Menschen zu gewinnen. Ausgesprochen köstlich war der erste Teil der Predigt von Thomas Hölzemann, dem fürs ZAH zuständigen Stadtmissionar. Er erzählte in allen möglichen deutschen Dialekten vom Streit der Wurstsorten, wer von ihnen wohl die beste Currywurst abgeben würde (Die Pfälzer Bockwurst oder die bayrische Weißwurst, oder die Thüringer usw.). Aber ausgerechnet ein unscheinbares Würstchen, das davon kaum zu träumen wagt, wird ausgesucht, gekauft und so zubereitet, dass sein Geschmack zu vollen Entfaltung kommt. Ein Schmunzel-Gleichnis davon, wie der dreieinige Gott das Beste aus jedem von uns machen will: der Schöpfer, der uns mit feinen Zutaten ausgestattet hat, Christus, der Sohn, der uns ausgewählt und für uns bezahlt hat, und der Geist, der uns nicht nur mit einer frommen Soße übergießt, sondern mit seiner Kraft durchdringt.
Zurück zum Karneval der Kulturen.
Pfingstsonntag findet am Nachmittag der rosenmontagsähnliche Umzug durch Kreuzberg statt mit über 80 Gruppen, 5000 Mitwirkenden und vielen Hunderttausenden Zuschauern. Wenn man sich dann vor Augen hält, wie sich Menschen unterschiedlicher Kulturen und Religionen in anderen Teilen der Welt aufs äußerte misstrauen, befehden und bekriegen, hat das, was hier geschieht, eine Menge mit Pfingsten zu tun: Frieden unter den Völkern. (Obwohl es sich beim Karneval der Kulturen definitiv um keine christliche Veranstaltung handelt, ja die Beteiligung von christlichen Gruppen vor Jahren leider ausdrücklich beendet wurde.)
Ich komme mit einem Berliner, der neben mir steht, ins Gespräch und spüre, wie gerne er mich als Berlin-Neuling in alle möglichen Hintergründe einweiht. Irgendwann sind wir plötzlich beim Thema Glauben. Das sei nichts für ihn, gibt er mir mit dem Brustton der Überzeugung zu verstehen. Aber dann stellt sich heraus, dass er sich seit langem mit Kirchengeschichte befasst. Und als ich nachhake, muss er zugeben, dass ja auch nicht alles nur schlecht war, und, ja, der neue Papst Franziskus…
Ist das nicht auch (und gerade das) Pfingsten, dass Menschen, die sich noch nie begegnet sind, über den Glauben reden? Ist das nicht eigentlich der Anfang und das Herzstück von Mission: Begegnen, wahrnehmen, hören, nachfragen, Perspektive weiten, ohne den anderen überreden zu wollen!
In diesem Sinn: Ein gesegnetes Pfingstfest (gehabt zu haben)!
Lieber Gerold,
Mit Freude lesen wir immer Deine geistreichen (Pfingsten!) Berichte und betrachten die vielen Bilder, die den Text hervorragend ergänzen.
Liebe Grüße aus St. Ammheim
Dorothea und Eberhard Schollé