Dieser Satz begegnet uns häufig, seit wir (meine Frau Christiane und ich) hier sind.
Die Gründe und Hintergründe könnten dabei aber kaum gegensätzlicher sein, mal abgesehen davon, dass wir Berlin durchaus schön finden (nicht nur das Wetter, das in diesem Sommer unvergleichlich viel besser war als etwa im Rheinland).
Wir wohnen ja in Reinickendorf-Waidmannslust, sind in wenigen Minuten zu Fuß am Naturschutzgebiet Hermsdorfer See / Tegeler Fließ, selbst die „grüne“ Grenze nach Brandenburg ist fußläufig.
Wenn wir aus unserer Wohnung im 13. Stock schauen, sehen wir zur einen Seite über ganz Westberlin, der Blick nach Nordwesten und Osten aber geht fast ausschließlich über Wälder und Felder. Oder über Siedlungen, in denen die Straßenbäume höher sind als die Häuser.
„Reinickendorf, Berlins grüner Norden“, so steht es auch auf den Wanderwegschildern. Zu DDR Zeiten war das schon so. Aber im Unterschied zu Kreuzberg und Neukölln, das immer schon ein verrücktes Pflaster war, und zu den reichen Stadtteilen Wilmersdorf, Charlottenburg und Grunewald war Reinickendorf – wenn ich das richtig aufgefasst habe – das ordentliche, (klein-)bürgerliche Westberlin. Heute ist Reinickendorf, so heißt es, immer noch der Berliner Bezirk mit dem höchsten Anteil an „echten“ Ur-Berlinern. Unser Eindruck ist das ebenfalls, nirgendwo sonst in der Stadt berlinert es so häufig, wie bei uns herum.
Und diese „Alt-Reinickendorfer“ sind es vor allem, von denen wir den Satz immer wieder hören: „Berlin is nich mehr schön.“ Oder: „Dit is nich mer so wie früha!“. Unsere über 80jährige Nachbarin, die im Hochhaus gewohnt hat, seit es steht. Der mehrfach gepiercte Eigenheimbesitzer mit Hund aus der Nachbarstraße. Die Bankerin der Berliner Stadtsparkasse, die uns berät. Der junge Mann, der aus dem Wedding hergezogen ist.
Nach dem Grund gefragt, kommt in der Regel: All die Ausländer, die Türken, die „Zigeuner“, die jetzt hierhin gezogen sind. Der Dreck überall, besonders in unserem Aufzug (siehe Titelbild), der Lärm. Und: „Früha jing et viel freundlicha zu“…
Da fällt mir doch der Titel der Kölner Vokalgruppe Wise Guys ein: „Früher, früher war alles besser.“ Und mir fällt das Lied ein, das der wohl berühmteste Reinickendorfer, Reinhard Mey, schon in den 70er Jahren geschrieben hat: „Es gibt keine Maikäfer mehr“. Ein Lied voller Bedauern über die verflossene gute Alte Zeit und unbestimmtem Ahnen, dass alles bergab geht:
„Vielleicht ängstigt mich ihr Fortgeh‘n, denn vielleicht schließ‘ ich daraus,
Vielleicht geh‘n uns nur die Maikäfer ein kleines Stück voraus.“
Passt total gut nach Reinickendorf.
Zurück zum Müll im Aufzug: Jeder motzt. Und keiner ist es gewesen. Aber es käme auch keiner auf den Gedanken, ein Tempotaschentuch zu nehmen, sich zu bücken und unten den Pfirsich-Rest eben in den Mülleimer zu werfen. – Oder: „Die Türken sind so unfreundlich“. Merkwürdig, wir erleben was ganz anderes. Ist man vielleicht mal auf den Gedanken gekommen, genauer hinzuschauen, oder zu überlegen, wie die pampige Art der Berliner auf Südländer wirkt? Bekanntlich kommt bei „Herz mit Schnauze“ die Schnauze vor dem Herz.
„Berlin is nich mehr schön“, das kann ein nostalgisches Jammern sein, ohne ernsthaft zu überlegen, was man selbst zum wieder-schön-werden beitragen könnte. Da zieht man lieber nach Brandenburg. Da hat man wenigsten seine Ruhe! (Das íst keine Ironie, sondern auch ein Zitat.)
„Berlin is nich mehr schön“, sagen auch viele z.B. im Prenzlauer Berg oder Neukölln. Hier ist nicht „Türke“ das Stichwort (ganz im Gegenteil), sondern „Gentrifizierung“. Mit anderen Worten, einen Stadtteil so herauszuputzen, die Altbauten so nobel zu sanieren, alles so schön zu machen, dass der normale Mensch sich keine Wohnung mehr leisten kann. Im „Prenzlberg“ ist es längst so weit. In Neukölln wehrt man sich noch: „Zwangsräumung geht uns alle an!“
Ein Straßenfest, irgendwie typisch für Kreuzberg und Neukölln, kreativ, anarchisch, etwas versifft, gut drauf und ausgesprochen kommunikativ. Statt zu jammern, werden Spielräume genutzt und offensiv ausgeweitet.
Und dabei versucht man, der Stadtverwaltung und Landespolitik wo es geht ein Schnippchen zu schlagen. Entweder geschieht das durch Bürgerinitiativen, die vollkommen unausgereifte (wie die Bebauung des Tempelhofer Feldes) oder auch plausible (wie den Vorschlag des Bezirksbürgermeisters von Köpenik, in der Altstadt Parkgebühren zu erheben!) Initiativen der Politik erfolgreich abwatschen. Die Parkgebühren wurden in der Volksabstimmung gestern mit 38.040 gegen 6424 Stimmen abgelehnt! Begründung: „Ick lass‘ mir doch nich‘ ausrauben.“
Oder anarchische Initiativen sind so erfolgreich, dass die Behörden sie irgendwann dulden oder sogar zu öffentlichen Einrichtungen machen.
Das wird besonders deutlich, wenn man über das Tempelhofer Feld wandert. Die Gebäude ringsum liegen scheinbar am Horizont. Und auf dieser unfassbar riesigen Fläche mitten in der Stadt hat sich ein „urbanes Landleben“ entwickelt, das seinesgleichen sucht. Ich verzichte jetzt auf Einzelbeschreibungen und zeige euch nur eine Reihe von Fotos:
Ich muss sagen, dass mir der anarchisch-kreative Ansatz näher liegt. Denn hier werden wenigstens Lösungen gesucht. Allerdings manchmal auch rückwärtsgewandt. Und dadurch werden die Probleme Berlins auch nicht kleiner.
Wenn Jesus sagt: „Wer die Hand an den Pflug legt und schaut zurück, der ist nicht geschickt zum Reiche Gottes“, spricht er eine Weisheit aus, die nicht nur für das Reich Gottes, sondern auch für eine Stadt wie Berlin gilt. Allerdings, das keinem Menschen der Lebensraum entzogen wird, das bleibt in jedem Fall eine zentrale Aufgabe – gerade für den Blick nach vorne .
Übrigens, der Ärger in Neukölln und Reinickendorf – so unterschiedlich er auch ist – hängt unmittelbar zusammen: Gerade weil in den ehemals „verkommenen“ Stadtteilen rasant günstiger Wohnraum vernichtet wird, ziehen die Leute nun in den Berliner Norden, wo die Wohnungspreise noch moderat sind. Unter anderem deshalb sind wir ja auch hier gelandet.
Berlin is nich mehr schön? Ich setz jedenfalls ein dickes Fragezeichen hinter den Satz, ohne die jeweiligen Probleme leugnen oder verharmlosen zu wollen.
Wir jedenfalls lieben den grünen Berliner Norden wie die verrückten Stadtteile. Und sanierte Altbauwohnungen sind nun wirklich nicht zu verachten, auch wenn wir sie uns nicht leisten können. Deshalb jetzt noch ein paar Fotos von unserem schönen Berlin: