Leises, fast andächtiges Gemurmel umgibt mich, während ich langsam die Niederkirchnerstraße vom Martin-Gropius-Bau nach Westen in Richtung Stresemannstraße gehe. Schnell vorwärts zu kommen, ist unmöglich, denn Bürgersteig und Staße sind komplett mit Menschen gefüllt. Darüber in gut zwei Meter Höhe schaukeln die weißen Lichtballons leicht im Abendwind. Nicht nur hier, sondern 15 Kilometer entlang der ehemaligen, innerstädtischen Berliner Mauer zwischen Bornholmer Straße in Pankow und Eastside-Gallery in Friedrichshain: 7000 Ballons, von ebensovielen „Ballonpaten“ betreut; geschätzte 2 Millionen Besucher an diesem Wochenende.
Die Staße des 17. Juni zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule ist längst gesperrt. Hier läuft das offizielle Festprogramm mit „Gorbi“ und Beethoven. Wie man nachher hört, soll das ausgesprochen würde- und eindrucksvoll gewesen sein. Aber auch auf der Strecke vom Brandenburger Tor bis zum Potsdamer Platz ist praktisch kein Durchkommen.
Uns aber hatte es in Richtung Kreuzberg gezogen. Denn genau an der Ecke Stresemannstraße/Niederkirchnerstr. hat die zusammengewürfelte Gruppe der Berliner Stadtmission nicht nur 35 Ballonpatenschaften übernommen, sondern auch einen kleinen Programm-Spot aufgebaut. Eigentlich ganz schlicht: Einzelne Menschen erzählen, wie sie den Fall der Mauer vor 25 Jahren erlebt – oder auch verpennt haben. Eine einladende Moderation, ein bisschen Live-Musik. Und die Menschen eilen nicht vorbei, wie das an normalen Abenden wäre, sondern bleiben stehen und hören zu.
Viele bewegende Geschichten hört man in diesen Tagen. Eine Frau aus der Stadtmissiongemeinde Tegel erzählt mir z.B., wie sie damals am 9. November früh ins Bett gegangen ist und nichts mitbekommen hat, weil sie am anderen Morgen auch sehr früh zur Arbeit los musste. In der Frühe am U-Bahnhof die Zeitung gekauft und nur den Kopf geschüttelt: „Die Mauer ist offen“ – was soll denn diese Zeitungsente?! Erst (ich glaube) am Nordbahnhof, bisher von der DDR abgeriegelter Geisterbahnhof, beginnt sie zu begreifen: Wo sonst nur ein paar VoPos Wache standen, war jetzt reges Treiben. Die Mauer ist wahrhaftig offen! – Aber auch von Angst, Mut und Neugier bei den Ostberlinern hört man an diesem Tag viel. Und immer wieder das rückblickende Staunen, dass damals kein einziger Funke in die hochexplosive Situation geflogen ist, die Demonstranten konsequent gewaltfrei blieben, und von den Tausenden hochgerüsteter Soldaten in den Seitenstraßen keiner durchgedreht ist oder aus Versehen abgedrückt hat.
Längst haben Kinder auf den angrenzenden Bäumen optimale Aussichtspositionen bezogen. Endlich ist es soweit: Auf der Großleinwand am Berliner Abgeordnetenhaus kann man erkennen, dass die ersten Ballons am Brandenburger Tor von ihren Ballonpaten per Hebeldruck in die Freiheit entlassen wurden. Es dauert aber noch ca. 10 Minuten, bis die Welle bei uns ankommt. Viele in die Luft gehaltene Smartphones (wie auch meins), etwas Applaus (am meisten bei einem verspäteten Ballon, der es dann doch noch schafft), aber kein Jubel, keine Euphorie. Auch jetzt eher Andacht und Nachdenklichkeit. Irgendwie ist es unspektakulär, wie die von ihrer Lichtquelle getrennten Ballons in den Himmel steigen (vom leichten Ostwind übrigens in Richtung Westen getrieben). Und doch ein großartiger Abend, gerade so.
Anschließend gibts noch was zu Essen und zu Trinken in unserer nahe gelegenen St. Lukas-Kirche. Die weit offene Tür lockt nicht nur Stadtmissioner an, sondern auch etliche weitere Gäste.
Flieg, Mauer, Fliieeg? Offene Türen?
In diesen Tagen kommt man nicht darum herum, auch an die Mauern und Stacheldrahtzäune zu denken, die heute nicht mehr mitten durch Europa, sondern außen um die „Festung Europa“ herum verlaufen. An denen viel Tausend mal mehr freiheitsuchende Menschen zu Tode kommen, als während der gesamten DDR-Zeit durch Mauerschützen umgebracht wurden.
Bei der Fernsehdiskussion zum Thema Flüchtlingsflut mit Maybrit Illner sind einige wirklich kompetente Gesprächspartner, die differenziert und realistisch die Lage beschreiben und sich für mutiges Annehmen der Situation einsetzen. Nur die beiden Vertreter der Parteien mit dem C setzen immer noch auf Abschottung und Zurückführung. Der junge Politiker mit deutlich sichtbarem Migrationshintergrund kann einem regelrecht leid tun. Offenbar hatte man ihn in ein Flüchtlingslager nach Italien geschickt, um seiner Kompetenz aufzuhelfen. Aber mit seiner These, man müsse die afrikanischen Flüchtlinge nur richtig fit machen, dann würden sie schon wieder nach Zentralafrika zurück gehen, offenbart er seine ganze Ahnungslosigkeit davon, was in unserer Welt wirklich los ist.
Wie gut, dass die Stimmung in Moabit anders ist und die Bereitschaft groß, die Flüchtlingsnotunterkunft (Traglufthalle) zu akzeptieren und zu unterstützen, die gerade von der Berliner Stadtmission (im Auftrag des Senats) an der Lehrter Straße gebaut wird. Das ist schon ein mutiges Projekt, weil es natürlich viele Besserwisser gibt, die solche eine Unterkunft für „menschenunwürdig“ halten. Aber im Moment hilft Geschwätz noch weniger als sonst, sondern nur konkrete Taten, auch wenn sie bei Weitem nicht den Idealzustand herstellen können, aber doch die größte Not lindern. Und wie schon vor dem LaGeSo (Landesamt für Gesundheit und Soziales, Aufnahmebehörde) versuchen wir von der Stadtmission dem Ganzen nach Kräften ein menschliches Gesicht zu verleihen. Mit der Erfahrung beim LaGeSo hat Christiane die stellvertretende Leitung übernommen. Übernächste Woche geht es los.
Das ist nochmal eine ganz andere Aufgabe, auch – oder gerade – weil die Flüchtlinge dort nur wenige Tage (oder vielleicht auch) Wochen bleiben sollen, bis feste Unterkünfte für sie gefunden sind. Wer weiß schon, wie schnell das wirklich gelingt.
Wie gut, dass unser syrischer Freund und „Lichtgrenze-Musiker“ Jean Samara das schon hinter sich hat und mit gesichertem Aufenthaltsstatus im Sharehouse wohnen kann.
An der „Lichtgrenze“ am 9. November singt er mit seiner Gitarre bewegende Lieder von der Schönheit seiner Heimatlandes…