Archiv für den Monat Dezember 2016

Zu Gast bei Nachbarn

Dies ist kein Weihnachtsblog und auch kein Jahresrück. Obwohl – vielleicht doch ein bisschen von beidem. Ich möchte euch heute nämlich (nachträglich) auf unsere sommerliche und spätsommerliche Entdeckungsreisen zu Nachbarn mitnehmen: Europäischen Nachbarn! Denn mitten in dem Jahr, das von zunehmender Entsolidarisierung und Re-Nationalisierung innerhalb Europas gekennzeichnet war, bin ich zwei Mal in Tschechien, einmal in Polen und einmal in Schottland gewesen – immer auf der Suche nach Begegnungen mit Einheimischen und auf der Suche nach Gemeinsamkeiten, nach Verbindendem.

Dabei war die Tschechische Republik die größte Entdeckung für uns: Ende Juli sind Christiane und ich in unserem Sommerurlaub zwei Wochen lang in Böhmen unterwegs gewesen, von Prag und Umgebung bis ganz in den Süden, ins tschechisch-österreichisch-deutsche Dreiländereck an der jungen Moldau. Und im September waren wir mit einer Delegation der Berliner Stadtmission zur Konferenz der European Association of Urban Missions (EAUM) in Ostrava in Nordost-Mähren, von Einheimischen auch Tschechisch-Preußen genannt.

Abgesehen von einer Konzertreise nach Ungarn und einer Studienreise durch Polen Jahre vor der Wende bin ich noch nie in osteuropäischen Ländern gewesen. Von Köln aus hat es uns immer nach Westeuropa gezogen.

Im Frühsommer war Christiane in einer Frauenzeitschrift auf die Frage gestoßen: „Wann haben Sie zuletzt etwas zum ersten Mal getan?“ Ihr waren antürlich sofort unzählige Dinge eingefallen, die vor allem mit ihrer Arbeit und Berlin zu tun haben. Nun aber: Wir beide zum ersten Mal in Tschechien. Von Berlin aus gerade mal 2 1/2 Stunden bis zur Grenze. Also erheblich „benachbarter“ als das Rheinland.  Natürlich haben wir mit Prag begonnen, der „goldenen Stadt“, von der uns schon so viele vorgeschwärmt hatten. Und das zurecht. Was für eine Stadt! Allein an den unendlich kreativen Häuserfassaden kann man sich gar nicht satt sehen: Jugendstil in immer wieder neuen Farbtönen und Dekorationen, dazwischen auch immer wieder ältere Bauwerke – oder vereinzelt auch postmoderne wie das „Dancing House“ am Ostufer der Jiraskuv-Brücke (In Prag anfänglich heftig angefeindet – aber wir finden’s genial). Oder die gigantische Prager Burg (siehe Titelfoto). Usw. usw.

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Ich will aber jetzt keinen Reiseführer schreiben und auch nicht meine Hunderte von Fotos präsentieren (nur ein paar wenige). Sondern auf das Stichwort „Gemeinsamkeiten“ kommen.

Wie eng nämlich unsere Geschichte – besonders unsere Kulturgeschichte mit der Tschechischen verwoben ist, war uns vorher nicht wirklich klar. Auf Schritt und Tritt vollkommen vertraute Namen:

Jan Hus

Jan Hus

Jan Hus, Reformator 100 Jahre vor Luther, und die daraus hervorgegangen Hussiten bzw. „Böhmischen Brüder“ (von denen wir einige Lieder im Gesangbuch haben).

Wallenstein (eigentlich von Waldstein), Feldherr im 30jährigen Krieg, bekannt durch das Drama von Schiller.

Wolfgang Amadeus Mozart, der Prag wie kaum eine andere Stadt liebte und sein hier lebender Freund und Anton Stadler, für den er das berühmte Klarinettenkonzert geschireben hat.

Smetana

Smetana

Der romantische Komponist Bedrich Smetana, von dessen Zyklus „Mein Vaterland“ wir eine Schallplatte zu Hause hatten. Nicht nur die „Moldau“ hat es mir von Kind auf angetan.

Antonin Dvorak, dessen Sinfonie „Aus der neuen Welt“ ich in Endlosschleife gehört habe, während ich die Trilogie Herr der Ringe las.

Franz Kafka .                  Und so weiter und so weiter.

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Und dann natürlich die Deutsche Botschaft, von deren Balkon Hans-Dietrich Genscher, der damalige BRD-Außenminister im Sommer 1989 die Ausreiseerlaubnis für die dorthingeflüchteten DDR-Bürger verkündete. Was bekanntlich der Anfang der Wende war.

Aber es ist nicht nur eine gemeinsame Kultur- und Freiheitsgeschichte, sondern auch eine tragische voller Abhängigkeiten. Nachdem die Habsburger 1620 in der Schlacht am Weißen Berg die Hussiten (natürlich waren wir auch in deren wichtigster Stadt Tabor) vernichtend geschlagen hatten, wurde Böhmen und Mähren dem Kaiser in Wien unterstellt und es setzte eine beispiellose Rekatholisierung ein nach rund 200 „evangelischen“ Jahren. Gleichzeitig wurde die Tschechische Sprache, erstmals von Jan Hus durch seine Bibelübersetzung in Schriftsprache umgesetzte (bis heute relevant), weitgehend verdrängt. Nur noch die einfache Landbevölkerung sprach tschechisch, wer etwas auf sich hielt, sprach deutsch. Erst im 19. Jhdt. wurde die Sprache im Rahmen des böhmischen Nationalbewusstseins wieder hoffähig, auch wenn viele Prager Autoren wie Franz Kafka bis weit ins 20. Jhdt. Deutsch schrieben. Durch die Vertreibung von über 2,7, Millionen Deutschen nach dem 2. Weltkrieg 1947 und die kommunistische Herrschaft verlor dann die Deutsche Sprache ihre Basis. Die meisten Tschechen, auf die wir trafen, sprachen nur noch ein paar Brocken deutsch. In Prag ist dann Englisch eher die gemeinsame Sprache europäischer Kommunikation.blog-42-11

Wir haben aber auch anderes erlebt. Nach ein paar traumhaftschönen Tagen in Horní Planá am Lipno-Stausee in Südböhmen (einschließlich u.a. einer Radtour entlang der „Kalten Moldau“ mit weiten Mooren und dunklen Wäldern) sind wir in östlicher Richtung Moldau-abwärts in Vyssy Brod gelandet. Auf der Suche nach einem Pensionszimmer oder einer Ferienwohnung, bei der die Touristeninfo nicht besonders hilfreich ist, also Pension nach Pension abklappernd stoßen wir auf ein Café mit dem Türschild „Villa Rauschenberg“. Kein Licht, aber die Tür ist tschechien-2016-518offen und löst ein Schellengebimmel aus. Aus dem Hinterzimmer kommt ein älterer Mann, der auf Christianes vorsichtige Frage, ob er wohl Deutsch oder Englisch spreche, barsch antwortet: „Deutsch natürlich! In der Tschechei spricht ma deutsch!“

Das Café ist ausgesprochen liebevoll eingerichtet, so auch der große Doppelbettraum im ersten Obergeschoss, wo wir uns für ein paar Nächte einquartieren. Und am dritten Tag mit dem Besitzer richtig ins Gespräch kommen…

Szenenwechsel (bevor ich hier doch einen ganzen Reisebericht niederschreibe):

Konferenz der Europäischen Stadtmissionen in Ostrava, also in Mähren, der „zweiten Welt“ Tschechiens. Ostrava, im äußersten Nordosten an der Grenze zu Polen, war über mehr als 200 Jahre eine Wirtschaftsmetropole der Montanindustrie, bis sie seit den 90ern das gleiche Schicksal erlitt, wie das Ruhrgebiet bei uns. Man sieht den Niedergang an allen Ecken und Enden und gleichzeitig viele Zeichen für die Überwindung der Krise. Die drittgrößte Stadt Tschechien ist Verwaltungszentrum der Mährisch-Schlesischen Region. Und: Wir befinden uns deutlich – wie fast überall in Tschechien – mitten in Europa. Nicht nur dass die Infrastruktur mit EU-Mitteln auf ein erstaunliches Niveau gehoben wurde. Hier herrscht europäische Aufbruchsstimmung.

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Die Tagung wird geleitet von einem Team der dortigen Stadtmission (bzw. Sleská Diakonie also Schlesische Diakonie), die innerhalb von 25 Jahren von Null auf ein Werk mit rund 1000 Mitarbeitenden und hoher gesellschaftlicher Reputation gewachsen ist. In der Vorbereitung und Durchführung der Konferenz legen die zwei leitenden Frauen und ihr Team (auch überwiegend junge Frauen) eine Mischung aus höchster Professionalität, Herzlichkeit und Charme an den Tag (und das alles in perfektem Englisch) verbunden mit einer so unverkrampft-lebendigen evangelischen Frömmigkeit, dass wir permanent von den Socken sind. Und am Ende gesteht das Team der Heidelberger Stadtmission, die in vier Jahren mit der Organisation dran sind, dass sie keine Ahnung haben, wie sie dieses Niveau nochmal erreichen sollen.  Beim abschließenden Gospelkonzert in der Kirche erleben wir einen Laienchor mit höchster Intensität und Leidenschaft zusammen mit super Musikern. Und wir sehen in den Gesichtern und lesen in den Texten: Das ist kein happy-clappy-Wellness-Gospel (liebe Gospelfreunde, entschuldigt – aber hierzulande erlebe ich das manchmal so), sondern Ausdruck einer geistlichen Energie, die hilft, schwere Krisen zu bestehen.

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Hier gibt es übrigens den höchsten Prozentsatz von evangelischen Christen in Tschechien und überhaupt sehr zielstrebige, fleißige Menschen, weshalb die Region auch Tschechisch Preußen genannt wird.

Szenenwechsel: Fahrt nach Breslau, der europäischen Kulturhauptstadt 2016, mit dem „Kulturzug direkt von Berlin. Die Regionalbahn ist hoffnunglos überfüllt. Wir zwei befreundete Ehepaare finden gerade noch Platz auf den Notsitzen im Eingangsbereich. Vor uns auf dem Boden platzieren sich einige Junge Erwachsene. Wie sich herausstellt gehören sie zur „Europäischen Union“ (nicht zu verwechseln mit einer der Unionsparteien), einer Jugend-Organisation, die als Ziel hat, Jugendlichen den europäischen Gedanken nahezubringen (und zwar nicht nur EU). Die Bildungs- und Austauschprogramme für Schüler organisieren und selbst ein internationales Netzwerk bilden. Eine Stundentin aus London ist dabei. Die sich in Grund und Boden schämt für den gerade gewählten „Brexit“ und sich erhebliche Sorgen macht. Aber auch zugibt, dass viele Junge Menschen in England zu bequem waren zur Wahl zu gehen. Trotzdem: diese Begegnung macht Mut.

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Letzter Szenenwechsel. Schottlandreise mit einem 5 tägigen Aufenthalt in der Klostergemeinschaft von Iona (, der internationalen Kommunität in Tradition der keltischen Christen), zusammen mit meinem Kollegen Andreas Schlamm, Leiter Bereich Bildung, und Sven Lager, mit dem ich das Refugio entwickelt habe (vgl. frühere blogs).

blog-42-2Auf der Hinreise Ende August nächtigen wir in Glasgow. Und abends wollen wir natürlich einen guten Schottischen Wiskey probieren.

blog-42-5Wir kehren ein im Pub „Ben Nevis“, empfohlen als hundefreundlicher Pub des Jahres. Es ist brechend voll, Menschen jeden Alters und aus mancherlei sozialen Schichten. An der Bar spielen zwei junge Frauen Karten.  Irgendwann ist es uns zu voll und zu laut und wir gehen mit unseren Wiskey-gläsern vor die Tür („Elberfeldy“, ein Tipp von Andreas, ist nur zu empfehlen). Da spricht uns ein junger Schotte an, ob uns der Wiskey schmeckt usw. – Und wir kommen ins Gespräch, natürlich über die Zuklunft Europas. Er meint, dass die Schotten sich da nicht von abbringen lassen und lieber auf England als auf Europa pfeifen. Aber so einfach ist es leider ja auch nicht.

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Für die letzte Nacht der Reise (über Iona erzähle ich vieleicht ein ander Mal) haben wir uns in einer kleinen Ferienwohnung mitten in Edinburgh einquartiert. Andreas und ich wollen (trotz sehr langem Besichtigungstag) abends noch mal schnell in einen Pub. Gleich um die Ecke finden wir einen. Definitiv keine Touristen-Location! Hier treffen sich die Einheimischen. Und nicht die Wohlhabenden…

Eine zwei-Mann-Band spielt mit viel Begeisterung Musik, die zu ihnen passt: Oldies. Wir setzen uns an den ersten Tisch, trinken einen Wiskey, der ziemlich stark nach Torf und Rauch schmeckt, und hören zu. Irgendwann geht Andreas kurz zurück, um Sven zu holen. Die Atmosphäre muss man einfach erlebt haben. Da macht die Band eine Pause und der Bassist setzt sich zu mir an den Tisch und spricht mich an. Schließlich erzählt er von sich, seiner australischen Heimat, wie er vor Jahrzehnten nach Glasgow gekommen sei und die Stadt liebe. Aber das Wichtigste im Leben sei die Musik. Anfang des Jahres habe er einen schweren Herzinfarkt gehabt mit allem drum und dran. Aber jetzt würde er wieder Musik machen. Denn Musik mache lebendig und verbinde die Menschen.

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Zu Gast bei Nachbarn. Ich habe jetzt keinerlei Neigung, Tscheche oder Pole oder Schotte zu werden. Aber ihnen zu begegnen, sich kennenzulernen, Unterschiede und Gemeinsamkeiten auszutauschen, ist solch eine Bereicherung. Und immer wieder neu zu versuchen, sich gegenseitig zu verstehen.

Nach unserer Tschechienreise haben eine der neuen berliner Freundinnen von Christiane  mit ihrem Mann zum Abendessen eingeladen. Monika Diekert ist Tschechin, die seit 14 Jahren in Berlin lebt (mit ihrem aus Essen stammenden Ehemann). Im Urlaub haben wir Fragen gesammelt: Alles was uns neugierig gemacht oder irritiert hatte und worauf wir keine Antworten gefunden hatten, kam auf den Zettel für Monika. So haben wir im Nachgang nochmal eine Menge verstehen gelernt.

Denn über „die anderen“ zu reden, verhärtet die Fronten. Sich auf Augenhöhe zu begegnen, schafft Vertrauen. Und damit wären wir nun am Ende doch noch bei Weihnachten gelandet, wo Gott sich entschlossen hat, uns auf Augenhöhe zu begegnen, um Vertrauen aufzubauen. Aber ich wollte ja keinen Weihnachtsblog schreiben….

Trotzdem wünsche ich jetzt: Gesegnete Weihnachtstage. Ein Jahresende mit innerem Frieden. Und ein gelassener Start ins Neue Jahr: Lasst euch nicht verrückt machen!

Auch wenn der Friede immer „fragile“ ist.

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„Hass ist krass. Liebe ist krasser“