Wer schon mal im Krankenhaus war, wird kennen, was ich hier beschreibe. Ich habe in den zurückliegenden zweieinhalb Jahren bereits mehrfach das Vergnügen gehabt. Allerdings intensiviert sich die Erfahrung, wenn man, so wie ich jetzt, am ersten Weihnachtstag „eingeliefert“ wird und wegen Corona-bedingtem Platzmangel nicht in einem privaten Zweibettzimmer, sondern „normal“ in einem Vierbettzimmer untergebracht wird. Ich möchte mich aber hier nicht über die (unterschiedliche) Qualität der Verpflegung äußern; auch nicht über die jeweilige Zimmergemeinschaft (die war grundsätzlich immer o.k.) oder die Freundlichkeit der Pflegekräfte und Ärzte (auch unter Druck immer erstaunlich positiv).
Im Krankenhaus ist man gezwungen etwas zu lernen, das im normalen Leben so intensiv nicht vorkommt: Die Kunst des Wartens.
Wenn du unter Lebensgefahr in die Notfall-Ambulanz kommst, kann alles sehr, sehr schnell gehen. Leben zu retten hat allerhöchste Priorität. Da wird (wenn irgend möglich) keine Sekunde gezögert. Das durfte ich vor eineinhalb Jahren erfahren.
Ist das aber nicht der Fall, muss man sich von allen gewohnten Zeitvorstellungen lösen. Diesmal war ich wahrscheinlich in der Ambulanz vier Stunden in einem Überwachungsraum, ohne das etwas geschehen wäre. Ich habe nicht wirklich auf die Uhr geschaut. Die Abläufe hinter den Kulissen sind für dich als Patient selten erkennbar. Und die Ansagen, wann etwas geschehen wird, selten belastbar. „Ich bin gleich bei Ihnen. Ich muss nur noch im Nebenzimmer Blut abnehmen…“. Es vergeht eine Stunde oder mehr, bis der Pfleger wieder auftaucht. Zum Frühstück die Nachricht: „Gleich werden Sie in ein anderes Zimmer verlegt“. Es wird Mittag darüber. „Morgen ist bestimmt ein Kardiologie im Haus, der Sie nochmal untersuchen kann.“ Aber „Morgen“ ist Samstag, und übermorgen Sonntag. Die Untersuchung findet also erst nach vier Tagen statt, wie immerhin am Samstag mitgeteilt wird.
Wenn man Pünktlichkeit gewohnt ist, kann man da verrückt werden. Mal abgesehen von der Frühschicht – nach begrenzt erholsamer Nacht: Exakt zwischen 5 vor und 5 nach sieben Uhr kommen die Schwestern betont vital ins Zimmer gerauscht. Volles Licht an, munteres „Guten Morgen die Herren“. Blutabnahme, Blutdruck, Sauerstoffsättigung, „Wann hatten Sie zuletzt Stuhlgang“… Und wieder raus gesaust.
Der Rest des Tages: Warten.
So und jetzt kommt die Kunst.
Eine Möglichkeit ist es, ständig auf die Uhr zu schauen. Und sich zu ärgern. Es gäbe viele Gründe sich zu ärgern. Manche Patienten tun das auch. Mir hat aber mal eine weise Frau gesagt: „Wer sich ärgert, büßt für die Fehler der anderen.“ Wobei ich vermute, das vieles im Krankenhausablauf nicht mal ein Fehler ist, sondern einfach nur anders. Also erster Schritt in der Kunst des Wartens: Nicht ärgern!
Was aber tue ich statt dessen, wenn ich nicht auf die Uhr schaue und mich eben nicht ärgere? Die Antwort ist an eine Weisheit des Apostels Paulus angelehnt: „Warten als warten wir nicht.“ D.h. ich warte zwar, aber ich beschäftige mich nicht mit dem Warten. Ich denke nicht permanent darüber nach, dass und warum ich jetzt immer noch warten muss. Jedes Jahr im Advent ist das ja eins der Themen: „Adventliches Warten“, geduldiges Erwarten. Ich finde das immer schwierig. Denn wenn ich wirklich etwas erwarte, also darauf fokussiert bin, dann bin ich auch ungeduldig. Warten als warten wir nicht, bedeutet: Das Warten läuft als Programm im Hintergrund. Im Vordergrund nutze ich die Zeit, die mir jetzt gegeben ist, Zeit, die so und nicht anders beschaffen ist. Ich tue, was ich genau hier und jetzt gut tun kann: Ich lese ein schönes Buch; ich höre mit dem Kopfhörer aufmerksam das ganze Weihnachtsoratorium von vorne bis hinten – oder ausführliche Podcasts; ich setze den Kopfhörer ab und rede zugewandt mit den Zimmergenossen. Ich stopfe mir Ohropax in die Ohren und schlafe eine halbe Stunde. Ich schaue im Fernsehen Wintersport, wozu ich lange nicht mehr gekommen bin. „Warten, als Warten wir nicht“, ist der zweite Schritt in der Kunst des Wartens.
Aber dabei darf die Wachsamkeit nicht verloren gehen. Denn wenn ich mich vollständig den Abläufen des Krankenhauses ausliefere (oder wenn Patienten ihnen aufgrund des Alters oder der Schwere der Erkrankung und ohne Angehörige ausgeliefert sind), dann geht wirklich vieles schief, dann wird Wichtiges vergessen. Als ich am Montag nach erfreulichen Untersuchungsergebnissen entlassen werden sollte – ich müsse nur noch auf die Unterlagen warten – zog sich auch das in die Länge. Genau jetzt war es Zeit, den Kopfhörer abzusetzen, das Buch beiseite zu legen, den Fernseher auszuschalten. Aktiv zu werden, nachzufragen. Und siehe da, die Nachmittagsschicht hatte die Info nicht mitbekommen und mich da behalten, obwohl der Arztbrief längst fertig war.
- Nicht ärgern, wenn gewohnte Zeitrhythmen nicht zählen
- warten als warte man nicht und die (Zwischen-)Zeit nutzen
- trotzdem wachsam bleiben und ggf. aktiv werden.
Drei Schritte, drei Dimensionen der Kunst des Wartens. Gelernt ausgerechnet im Krankenhaus.
Ich finde, das ist übertragbar auf vieles im Leben und im Glauben. Natürlich auch im Hinblick auf die Coronabedingungen, mit denen wir auch in diesem Jahr noch viel zu tun haben werden.
Für dieses neue Jahr wünsche ich euch jedenfalls Gottes Segen und gute Gesundheit.
Dann wünsche ich dir für dieses Jahr, dass die Lebenskräfte wiederkommen, lieber Gerold! Ich weiß genau, wovon du sprichst. Mein Herzinfarkt liegt schon ein bisschen zurück, und das Jahr 2020 habe ich mit dem Auf und Ab der Nachwirkungen einer viralen Lungenentzündung verracht, von denen nicht so ganz klar ist, ob das nun eine Covid-Infektion oder eine Stino-Influenza war. Und beim esen deiner Zeilen habe ich einen leisen Schrecken von den Diagnose-Andeutungen bekommen, die du im Blog gemacht hast. Bleib behütet! Gott kann mit begrenzten Kräften mehr anfangen als mit Menschen, die auf ihre eigene Stärke bauen! Herzliche Grüße, Gott befohlen, Armin
Eine wichtige Lektion aus der echten Lebensschule. Danke!