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Ein Tag – drei Welten

Der vergangene Sonntag hatte für mich mal wieder einen typischen Berliner Charakter: völlig unterschiedliche Lebenswelten. Wobei zwei davon unter dem Dach der Stadtmission sind und sogar zu meinem Dienstbereich gehören.

Aber der Reihe nach.

I. Vormittags war ich nach längerer Zeit endlich mal wieder in unserer Iranischen Gemeinde („Kinder des Lichts“), die inzwischen zur Jungen Kirche Berlin (JKB) Lichtenberg in deren Gemeinderäume umgezogen ist. Und: Wir feierten den inzwischen 10. Taufgottesdienst in der 2016 offiziell gegründeten Gemeinde. Inzwischen ist die Gemeinde – nach zwischenzeitlicher Krise vor ein paar Jahren – wieder auf 60 bis 70 Mitgieder gewachsen, am Sonntag waren es mit Gästen über 80 Personen, die dieses Fest miterleben wollten.

Dabei spielt die Dekoration eine ganz wichtige Rolle. Bis halb zwei in der Nacht war vorbereitet worden, unzählige liebevollste Details in typisch persischem Stil. Und dazu kam dann noch eine gigantische Tauf-Torte (natürlich in hellblau, um das Taufwasser zu symbolisieren).

Der Gottesdienst (zweieinhalb Stunden) hatte vier Teile: Begrüßung, Gebet und Lobpreis mit vielen Liedern und Bibeltexten, alles mit Begeisterung vorgetragen und gesungen.

Dann meine Predigt mit Satz-für-Satz-Übersetzung. „Ihr habt ja nicht einen Geist empfangen, der euch zu Sklaven macht. Dann müsstet ihr doch wieder Angst haben. Ihr habt vielmehr einen Geist empfangen, der euch zu Kindern Gottes macht. Weil wir diesen Geist haben, können wir rufen: Abba! Lieber Vater!“ (Römer 8). Wie sehr treffen diese Worte von Paulus in die Situation von jungen Christen, die ihre Herkunftsreligion in ihrem Heimatland nur als zutiefst furchteinflößend erlebt haben. Und nun Gott kennengelernt haben als jemanden, der sie liebt und dem sie vertrauen können.

Bei der Predigt fiel mir auf, wieviele aus der Iranischen Gemeinde inzwischen gut Deutsch können. Wenn Massoud, dem Übersetzer, mal ein Wort nicht einfiel, riefen sie ihm im Chor die richtige persische Vokabel. Sehr lustig. Insgesamt hat sich die Lebenssituation etwa bei der Hälfte der Gemeinde inzwischen sehr positiv entwickelt: Sie haben reguläre Wohnungen, Jobs und Ausbildungsplätze gefunden. Inzwischen ist aber auch der „Durchlauf“ geringer, weil weniger Menschen es schaffen, aus dem Iran auszureisen, und weil weniger von denen, die hier ankommen, dann nochmal innerhalb Deutschlands oder Europas verteilt werden. Das hilft natürlich der ganzen Community.

Der dritte Teil fand dann im Foyer statt, wo für die Taufen ein Wasserbecken und eine weitere Lautsprecheranlage aufgebaut war. Man kann kaum beschreiben, wie intensiv diese Erwachsenen-Taufen erlebt werden von Menschen, die einen völlig anderen religiösen Hintergrund haben: Was für ein Gefühl der Befreiung, das zugleich tief erschüttert und begeistert. Nach jeder Taufe wird die Musik voll aufgedreht, geklatscht und getanzt, gelacht und geweint.

Nach der Taufe waren nicht nur die Täuflinge, sondern auch wir beiden Pastoren (Stefan Rostami und ich) klatschnass, und mussten uns erstmal umziehen, bevor es zum dritten Teil der Gottesdienstes wieder in den Saal ging: Lobpreis, Fürbitten, Segen, Geschenke.

Und dann wurde weiter gefeiert, mit reichlich Essen. Das Ganze selbstverständlich von vielen Handys gefilmt und in hunderten von Fotos festgehalten.

Lebenswelt eins an diesem Sonntag.

II. Nur eine Straßenbahnhaltestelle vorher in der Herzbergstraße findet sich eine völlig andere Lebenswelt, versteckt hinter einem neuen Bürogebäude und einer Toreinfahrt: Das „Dong Xiang Center“. Schon häufig vorbei gefahren, hatte ich jetzt vor meinem zweiten Gemeindetermin noch eine Stunde Zeit, um dort endlich mal reinzuschauen.

Seit Ende der 70er Jahre wurden Vietnamesen als „Vertragsarbeiter“ von der DDR angeworben, lebten hier aber völlig isoliert in weitgehend prekären Wohnverhältnissen und als völlige Fremdlinge. Das änderte sich auch nach der Wende nicht wirklich. Wir haben ja gerade vorige Woche an das rechtsradikale Pogrom in Rostock-Lichtenhagen vor 30 Jahren gedacht. In Berlin stellt die vietnamesische Community mit heute 40.000 Angehörigen die größte ostasiatische Bevölkerungsgruppe.

Auf Wikipedia findet man folgende Gründungsstory: „Wie viele Vertragsarbeiter der DDR wurde Nguyễn Văn Hiền mit der deutschen Wiedervereinigung arbeitslos. Gleich nach der Wende machte er sich selbstständig und verkaufte Kleidungsstücke. Neue Ware kaufte er bei einem Großhandelsunternehmen in Polen. Hier traf er regelmäßig Kollegen aus Berlin. Das brachte ihn auf die entscheidende Idee, das alles künftig selbst in Berlin anzubieten. Im Jahr 2005 setzte er seine Idee eines Handelszentrums um und gründete das Dong Xuan Center. Ende der 2010er Jahre nutzten bereits Menschen aus aller Welt das reiche Angebot an Textilien, fernöstlichen Lebensmitteln sowie Dienstleistungen.“ In den Hallen des „Dong Xiang Centers“, auch „Little Hanoi“ genannt, betreiben auf einem Areal von 165.000 Quadratmetern mehr als 400 Unternehmer mit rund 2000 Mitarbeitern ihre Geschäfte. „Đồng Xuân“ ist übrigens vietnamesisch und heißt übersetzt „Frühlingswiese“. Blumen findet man aber nur im Geschenkeshop und aus „Plaste“. Gefühlt jeder vierte Laden ist ein Friseur oder Nagelstudio.

Und jetzt schaut mal, was für Fahrzeuge dort auffahren: Bentley & Co

III. Nach einer knappen Stunde Straßenbahn- und S-Bahn-Fahrt bin ich in der Bölschestraße in Friedrichshagen angekommen. Nach der Wende standen hier fast nur heruntergekomme Ruinen. Längst ist die Straße aber zu einem idyllischen und beschaulichen Ort mit hohem Wohn- und Erholungswert direkt am Müggelsee herausgeputzt worden. Und genau dort liegt die südöstlichste Stadtmissionsgemeinde in einem denkmalgeschützen Vorderhaus und einer 1997 im Innenhof gebauten Kapelle. Am Sonntag wurde dort auch gefeiert: das 25-jährige Jubiläum der neuen Räume und die Einführung des ganz neuen Stadtmissionars Frank Bruhn. Ein komplett bildungsnaher biodeutscher Kulturraum, wie man schon an der Gestaltung der Kapelle sieht.

Sehr freundliche Menschen, fast alles Akademiker. Das Offene Singen zu Beginn erfordert ein gewisses musikalisches Verständnis. Der Posaunenchor spielt im Innenhof anspruchsvolle Gospel- und Jazzstücke. Der Gemeindegesang im Gottesdienst zeugt von lauter kräftigen, geübten Singsimmen. Und den musikalischen Rahmen gestaltet schließlich ein Trio aus Geige, Klavier und Sopran mit professioneller klassischer Kirchenmusik: „Jesus bleibet meine Freude“ – von J.S. Bach.

Ein Tag – drei Welten. Und alles in Berlin!

Ich sehne mich nach Frieden

9.November, Schicksalstag der deutschen Geschichte.
In diesem Jahr erinnern wir uns schwerpunktmäßig an den Fall der Mauer vor 30 Jahren. In Berlin läuft die ganze Woche an vielen Orten ein spannendes Programm. Und viele Gebäude werden mit beeindruckenden Videoprojektionen angestrahlt, die die Ereignisse von damals in die Gegenwart holen. Auf der modernen Fassade des neuerrichteten Stadtschlosses / Humboldforums wird nicht nur die Außenansicht des „Palastes des Repuplik“ wieder sichtbar, der genau hier stand, sondern der thematische Bogen wird bis heute gezogen zu fridays for future und aktuellen Fragen von Demokratie.img_20191108_185332_resized_20191108_081542711.jpg
„30 Jahre friedliche Revolution“ stellen auch die Frage nach der Friedlichkeit heute. Die Jahreslosung der Christen heißt ja „Suche den Frieden und jage ihm nach“.
Meine Gedanken dazu habe ich in einem Poetry ausgedrückt. Beim Gospelprojekt, von dem ich im vorigen Blog erzählt habe, kam dieses Poetry erstmals zur Aufführung: auf den Treppen des Berliner Doms.
Unser Artrejo-Filmteam hat daraus ein youtube-Video gemacht:

Den vollständigen Text findet ihr hier weiter unten nach den Fotos von Großprojektionen. Ich würde mich sehr freuen, wenn ihr das fleißig mit anderen teilt.

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Ich sehne mich nach Frieden                                Poetry von Gerold Vorländer

Ich sehne mich nach Frieden
für mich selber und für die ganze Welt,
ich hätte ihn schon längst bestellt
irgendwo im Internet.
Das wär‘ doch echt nett,
wenn das so einfach wär‘:
Geklickt, bestellt, schon kommt der Frieden her.

Suche Frieden, das hört sich so leicht an.
Ist aber mega schwer. Denn von allein kommt der nicht her.
Vielmehr kommt der Streit von ganz allein, mischt sich ein, ohne dass man will.
Überall.

Überall fallen Menschen übereinander her.
Sie sagen: Die anderen glauben anders.
Die anderen haben mehr.
Die anderen sind böse. Die anderen müssen bestraft werden.
Wir wollen sie loswerden.
Und so schmieden sie Waffen.
Werfen Bomben oder Brandsätze oder Steine.
Sie schießen mit Gewehren und Raketen
und schießen auch mit Worten.

Doch Frieden fängt nicht irgendwo an.
Sondern hier, bei mir und dir.  Wir!
sind dran, wir! sind gefragt,
nicht mit dem Finger auf andere zeigen,
sondern Haltung zeigen,
Brücken bauen und Hände reichen
zwischen Gleichen und Ungleichen.

Ich jedenfalls will keinen Krieg
und keine Mauern mehr.
Die in Berlin ist ja Gott sei Dank
seit fast 30 Jahren nicht mehr da,
Aber immer noch in Korea und Palästina und demnächst womöglich in den USA.
Und in den Köpfen.
Da wachsen grade Mauern schneller als du gucken kannst.
Wachsen aus dem Nährboden der Angst.

Aber ich will den Frieden suchen und ihr, hoff‘ ich, auch.
Will die Angst in ihre Schranken weisen.
Und den Frieden suchen.
Vergiss mal kurz die Welt
und all die miesen, fiesen News, die dich runterziehen.

Denn Frieden fängt nicht irgendwo an.
Sondern hier, bei mir und dir. Wir!
sind dran, wir! sind gefragt,
nicht mit dem Finger auf andere zeigen,
sondern Haltung zeigen,
Brücken bauen und Hände reichen
zwischen Gleichen und Ungleichen.

Und glauben!
Glauben, dass es möglich ist.
Glauben, dass nicht die Hetzer das letzte Wort behalten.
Dass die kalten,
harten Herzen,
die den Krieg als Mittel lieben
den Erfolg nicht kriegen, nicht siegen.
Sondern unterliegen.

Frieden fällt nicht vom Himmel.
Frieden muss auf Erden wachsen.
Doch der Himmel mischt sich ein
und will Mut zum Frieden geben.
Gott will den Frieden und nicht den Krieg.
Gott will Versöhnung und nicht den Hass.
Gott will offene Hände und nicht stampfende Soldatenstiefel.
Gott will Wahrheit, die das Leben schützt
und nicht – in Lüge verdreht – immer nur den gleichen,
den Mächtigen und Reichen,
den Frechen und Dreisten nützt.

Dem Frieden hilft es nicht
zu twittern und zu texten
zu schimpfen und zu hetzen,
die Gegner auf die Abschussliste zu setzen.

Dem Frieden hilft es,
miteinander zu reden,
zuzuhören statt zuzutexten
und fragen, fragen, fragen,
verstehen wollen
und nicht locker lassen,
sich nicht  frustrieren lassen,
sondern immer wieder nachfassen.

Denn Frieden fängt nicht irgendwo an.
Sondern hier, bei mir und dir.  Wir!
sind dran, wir! sind gefragt,
nicht mit dem Finger auf andere zeigen,
sondern Haltung zeigen,
Brücken bauen und Hände reichen
zwischen Gleichen und Ungleichen.
Frieden fängt nicht irgendwo an.
Sondern hier, bei mir und dir!

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„Kerzen-Revolution“

Natur und Kultur – ein bunter Herbst

Der Herbst steht unter anderem für bunte Wälder und – von Fotographen und Malern geliebt – klare Luft und intensive Farben. Von meinem kleinen Zuhause-Schreibtisch habe ich einen wunderbaren Blick über Lübars bis weit ins Mühlenbecker Land (Siehe Titelfoto). 13. Stock hat was! Jedenfalls, was die Aussicht angeht, ist es einfach toll, jeden Tag wieder neu. Allerdings nicht, wenn – wie heute abend – beide Aufzüge ausfallen. Obwohl: Das ist dann Kardiosport…

Klare Luft und intensive Farben und das bei bis vor kurzem immer noch sehr milden bis richtig warmen Temperaturen gab es für uns jede Menge. So zum Beispiel bei einer wunderschönen Oktober-Sonntags-Wanderung am Wannsee.

Oder im sogenannten „Friedhof der Selbstmörder“ im Grunewald. Bis ins 20. Jahrhundert war ja die Beerdigung von Menschen auf kirchlichen Friedhöfen verboten. Durch den Knick der Havel wurden aber hier in der Nähe viele Freitod-Leichen angespült. Die Grundwald-Förster fanden eine Lösung, indem sie einen eigenen Friedhof für diese Verstorbenen anlegten. Die erste dokumentierte Beerdigung dieser Art war im Jahr 1900. Bald sprach sich das herum, und Angehörige brachten selbst Suizidale hierher. Nach 1945 wurden zivile Opfer des 2. Weltkrieges hierhin umgebettet und wenig später entwickelte sich dieser inzwischen mit Mauer und Kapelle versehene idyllische Ord zu einem „normalen“ kommunalen Friedhof.

 

2018 aber beschloss der Bezirk, keine weitere Beerdigungen mehr zuzulassen. (Schade eigentlich, oder?)

 

Von der Natur zur Kultur:

Eine Entdeckung war für uns die „Nacht der offenen Ateliers“ in den „Weddinger Gerichtshöfen“, einem Gewerbegebäudekomplex vom Anfang des 20 Jahrhunderts an der Gerichtstraße – daher der Name. Das Kunstquartier ist mit gut 70 Ateliers inzwischen eines der größten in Deutschland. An diesem Abend war der Innenhof schön geschmückt, mit Infotisch und Fressbude. Und es gab ausgezeichnete Führungen durch ausgewählte Ateliers. Moderne Kunst mit hoher Qualität und sehr gut vermittelt. Mehr als ein Geheimtipp.

Ein ganz besonderes Erlebnis war im Rahmen des „Festival of Lights“ in der dritten Oktoberwoche die Projektion an die Fassade des neuen Eingangsgebäudes zur Museumsinsel (Architektur von David Chipperfield). Einfach phantastisch, was Computer-Kunst heute darstellen kann: Eine ständige Metamorphose von Bildern und Farben untermalt mit warmen Klängen. Hier ein paar Eindrücke:

 

Kunterbunt ist es auch im „Textilhafen“ der Berliner Stadtmission. Diese neue Einrichtung in der Storkowerstraße beherbergt eine große Halle zur Kleidersortierung.

Dabei geben wir keine Reste mehr an fremde Textilverwerter weiter, weil sich deren Konzepte nicht mit unseren Werten deckt, wie sich im vorigen Jahr herausstellte. Statt dessen gibt es hier – außer einem normalen Second Hand Shop – Raum für kreative, lokale Textilwirtschaft; zum Beilspiel mit dem großen Webstuhl oder dem Aktionskoffer „Wir sticken das Grundgesetz“.

Wir möchten in der Berliner Stadtmission zunehmend auch Denkanstöße geben und Handlungsalternativen aufzeigen. Und das nicht nur in der Kältehilfe, die heute Nacht wieder ihre Arbeit aufnimmt.

Zuletzt zwei besondere Aktionen der Berliner Stadtmission, die ich nicht beschreibe, weil es dazu zum einen ein schönes kleines Video unseres Artrejo-Filmteams gibt, zum anderen einen höchst anschaulichen Beitrag auf unserer Homepage.

Am 28. September haben wir auf den Treppen des Berliner Doms ein Gospelprojekt durchgeführt unter dem Thema „Suche Frieden“:

Und dann vor wenigen Wochen der „Ball der Gemeinschaft“, der erste Ball für Obdachlose und andere Menschen in der City Station. Lest den Beitrag von Anna-Sophie Gerd:

https://www.berliner-stadtmission.de/aktuelles/ball-der-gemeinschaft/994466c705d10af36c4bbd739567d196

portrait zweier Tanzenden

Und damit wünsche ich euch einen angenehmen Start in die dunkle Jahreszeit.

 

Tschüss Köln – Hallo Berlin!

logo-bsmSeit dem 1. Mai  bin ich sogenannter Leitender Missionarischer Mitarbeiter der Berliner Stadtmission.

Nachdem mich meine bisherige Gemeinde, die Ev. Brückenschlag-Gemeinde Köln-Tschüss KölnFlittard/Stammheim am Sonntag nach Ostern mit einem bewegenden Fest verabschiedet hat, hieß es in Köln die Zelte abbrechen und nach Berlin umziehen (zunächst noch ohne Familie, die in den Sommerferien nachkommt).

Dieser Arbeits- und Ortswechsel bedeutet für mich jetzt eine spannende Entdeckungsreise: Durch das enorm große Werk der Berliner Stadtmission und die faszinierende Metropole Berlin. Weiterlesen