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Neuberliner seit sechs Monaten

Am 1. November hat es sich zum halbsten Mal gejährt, dass ich nach Berlin gekommen bin und bei der Berliner Stadtmission angefangen habe. Zum „halbsten Mal gejährt“? Ja, denn eigentlich fühlt sich die Zeit hier schon viel länger an, also eher wie ein Jahr, so gefüllt und interessant und lebendig wie diese Zeit war. Und auch die vier Monate, in denen wir, also Christiane, Rafael und ich in Waidmannslust im 13 Stockwerk wohnen und von dort die Welt überblicken, scheinen einen viel größeren Zeitraum zu umfassen. Fragen wie „Habt ihr euch schon ein bisschen eingelebt“ lassen uns regelrecht schmunzeln. Ja: wir fühlen uns zu Hause in unserer neuen Wohnung und sind schon in der Phase angekommen, wo es auch an die letzten noch unausgeräumten Kisten und Ecken geht und an die Feinheiten der Dekoration usw. Die Besucher, die bei uns schon genächtigt haben, lassen sich längst schon nicht mehr an einer Hand abzählen. Und man kennt schon etliche Mitbewohner im Haus vom Sehen, durch kurze Gespräche im Aufzug oder auch mit Namen. Rafael hat es in der Hermsdorfer Schule in der Jahrgangsstufe 11 sehr gut angetroffen und schon Freunde gefunden. Christiane und ich haben bereits ein Konzert in der Frohnauer Kantorei mitgesungen. Und bei der Nennung von immer mehr Straßen und Plätzen haben wir eine Vorstellung, wo in etwa das in Berlin liegen könnte.

So gehören wir zu den zw. 50.000 und 70.000 jährlichen Neuberlinern. Und davon wieder zu denen, die sich richtig darüber freuen. Denn das ist längst nicht bei jedem so. Manche klagen auch darüber, dass es total schwer sei, Kontakt bekommen. Das können wir so nicht sagen.

Unsere Situation ist aber auch dadurch besonders, dass wir zu denen gehören, die Milieu- Kiez- und altersübergreifend „networken“. Das war bei uns ja auch schon in Köln so und setzt sich hier fast nahtlos fort. Christiane hat schon allein durch ihre Teamverantwortung in der Flüchtlingshilfe sehr unterschiedliche Menschen „von Nahem“ kennenlernen, Kontakte knüpfen  und z.T. Freundschaften schließen können. Und auch mein Arbeitsfeld führt mich nicht nur kreuz und quer durch Berlin, sondern auch zu vollkommen unterschiedlichen Altersgruppen und Milieus. Und im Team der Stadtmission gibt es viele, mit denen ich mich wunderbar verstehe, wo ich mich freue, sie zu treffen und mit ihnen zusammen Aufgaben zu erledigen. Und: ich lerne ständig neue Menschen kennen (deren Namen ich allerdings büffeln muss, wie weiland die Lateinvokabeln. Weil hier mein Hirn irgendwie unterentwickelt ist).

Die spannende Entdeckungsreise geht also weiter. Hier will ich jetzt stichwortartig von zwei Bereichen aus meiner Arbeit der letzten Monate erzählen, die bis jetzt noch nicht vorkamen  (Weil ich schon wieder drei Wochen Blog-Pause hatte, bekommt dieser hier – hoffentlich interessante – „Überlänge“):

 1. Camps, Junge Kirchen und ein Umzug

WP_20140802_14_54_13_ProWP_20140802_14_50_07_ProWP_20140802_12_06_25_Pro In den Sommerferien gab es vier mal eine Wochen lang das GEC = Gussower Erlebnis Camp für Kids von 8 – 13 Jahren.

Das Programm ist in vielem vergleichbar mit den Ferienangeboten des Kirchkamperhofs (ehemals Christcamp) am Niederrhein. Abenteuerliches Spieleprogramm, Kreativ- und Bibelgruppen usw. und am Ende der Woche ein aktivierendes Programm mit den Eltern, die die Kinder abholen. Darunter sind viele Familien, denen das finanziell unmöglich wäre, wenn das GEC nicht gezielt dafür Spenden sammeln würde – unter anderem auch in einem Beitrag des Frühstücksfernsehens von SAT 1.

Stefan Boschek, unser Jugendreferent, hat keine Mühe, immer das dafür nötige Team von Ehrenamtlichen (meist Jugendlichen) zusammenzubekommen.

GEC ist einfach cool.

Jetzt in den Herbstferien gab es für die 13jährigen, die nächsten Sommer nicht mehr mitdürfen, das „GEC reloaded“ eine Art Sprungbrett zum großen…

….. WP_20140818_10_48_05_ProJugendcamp im Stadtmissions-Jugenddorf Groß Väter See in der Uckermark direkt an einem herrlichen Badesee.

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Veranstaltet wird das zusammen mit unseren beiden JKBs (Junge Kirche Berlin) in Treptow und Lichtenberg.

Die Lichtenberger JKB ist vor wenigen Wochen aus ihrem Domizil im Dachgeschoss des HoteWP_20140525_17_34_54_Pro__highrescomprls Siegfriedshöfe aus finanziellen und inhaltlichen Gründen ausgezogen…

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…und mit einem feierlichen Einweihungsgottesdienst  in ein altes ehemaliges Industriegebäude eingezogen (hier Stadtmissionsdirektor Hans-Georg Filker bei Ansprache und Einweihungsgebet): etwas enger, deutlich günstiger und: ebenerdig und damit näher am Leben.) Wie kreativ die übrigens sind, sieht man z.B. an „Visitenkarten-Bar“

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2. Randgruppen mitten drin

Der Evangelische Blindendienst gehört ebenso zur Berliner Stadtmission wie die Wohnungslosenseelsorge. Bei einem Bibelnachmittag der Blinden hab ich mal wieder gestaunt, wie viel diese mit den restlichen Sinnen und ihrem Herzen sehen – und wie schnell die in ihren dicken Gesangbüchern lesen und dazu singen.

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Seit der schweren Erkankung eines unserer Stadtmissionare habe ich im September eine seiner Aufgaben übernommen, nämlich jeden Freitag im „Übergangshaus“ (direkt gegenüber der Geschäftsstelle in der Lehrter Str. 68) ein Gesprächsfrühstück mit ehemaligen Wohnungslosen zu halten. Nachdem Kaffee und Brötchen verteilt sind und mehr oder weniger gemeinsam der „Tisch-Rap“ gebetet wurde, kommt gleich die Frage: „Herr Pfarrer, was ist denn Thema heute?“ Ich gebe ein Stichwort rein und dann sagen die Teilnehmer, denen man nur  teilweise jahrelange Obdachlosigkeit ansieht,  was ihnen dazu einfällt. Zum Beispiel zum Stichwort „Heimat“: „Heimat ist, wo ich bin“, oder:“Heimat ist, wohin ich immer wieder zurückkommen kann.“ Ich höre bewegende Lebensgeschichten und mein Respekt wächst von Mal zu Mal vor diesen „Überlebenskünstlern“. Gegen Ende erzähle ich – unter dem Eindruck dessen, was ich gehört habe – eine biblische Geschichte zum Thema. In diesem Fall die vom „verlorenen Sohn“.

WP_20141031_09_46_38_ProDanach ist das Thema offiziell zu Ende. Aber gerade dann kommen noch sehr persönliche Beiträge von einzelnen. So lerne ich selbst die Bibel mit neuen Augen zu lesen. Vorher wäre ich wahrscheinlich nicht auf einen Satz gekommen wie: „Wussten Sie, dass Jesus selbst drei Jahre lang wohnungslos war?“ Und ich denke, ER war näher an deren Leben als an meinem!

„Lehrter Straße achtundsechzig – bitte –
da bin ich schon bekannt.
Irgendwo in Berlin – Mitte –
Zwischen Knast und Kanzleramt.“

So heißt der Refrain eines Liedes, das zwei junge Freiwillige über die Kältehilfe und Notübernachtung geschrieben haben, die seit dem 1. November wieder für die Obdachlosen geöffnet hat. Am gleichen Tag gab es eine prominent besuchte Festveranstaltung „20 Jahre Kältebus“.

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So lange fahren nämlich Mitarbeitende der Stadtmission im Winter Nacht für Nacht durch die Stadt, verteilen heiße Getränke und sammeln die Menschen auf, die vom Erfrieren bedroht sind. Moderiert wurde die Festveranstaltung von keiner Geringeren als der bekannten Fernsehmoderatorin Sandra Maischberger, die die anderen anwesenden Promis ordentlich in die Zange genommen hat, um ihnen eine noch größere Unterstützung für dieses Projekt abzuringen. WP_20141101_17_38_23_ProDarunter z.B. auch ein Funktionär und ein Spieler der „Berliner Eisbären“ (mehrfacher deutscher Eishockey-Meister). Hier erzählt auch Hermann Wolter, ehemaliger Obdachloser und inzwischen in der Lehrter Straße regulärer Mieter (und Teilnehmer des Gesprächsfrühstücks), was ihm sein neues Leben ermöglichte: „Früher hab ich keinem vertraut! Aber bei der Bahnhofsmission haben sie mich als Menschen behandelt, auf Augenhöhe. Da hab ich wieder Vertrauen gelernt.“

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In dem Zusammenhang ist auch ein Kinotrailer gedreht worden. Hier der Hauptdarsteller Guido als Objekt für die Berliner Pressefotographen.

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Die Coda des Kältehilfe-Songs heißt übrigens: „Näher am Knast als am Kanzleramt.“ Zu hören und zu sehen unter: https://www.youtube.com/watch?v=dZBu3a8M-Ns&feature=youtu.be