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Machtlose Helfer und ein „Haus des Friedens“

Freitagabend. Ich bin auf dem Weg zur „City-Station“ der Berliner Stadtmission, einem Restaurant für Stadtarme und Obdachlose in Wilmersdorf. Endlich will ich mal zu der Freitagsandacht, die es dort seit einem halben Jahr – statt Sonntagsgottesdienst – gibt. Das gesamte Team wurde im vorigen Jahr neu zusammengestellt und das Konzept überarbeitet. So dass jetzt soziale Arbeit und geistliches Leben von den gleichen Mitarbeitenden gestaltet werden.

Von der S-Bahn-Station Halensee sind es nur ein paar hundert Meter zu Fuß den Kurfürstendamm rauf. Plötzlich stutze ich. Da sind merkwürdige Fußspuren auf dem Bürgersteig. Ich schaue genau hin. Schock: Der Schuhabdruck jedes zweiten Schrittes zeichnet sich durch einen dicken Rand aus Blut ab. Ich ahne schon, wohin es den Verletzen gezogen hat. Und wahrhaftig: als ich in die Joachim-Friedrich-Straße einbiege, sehe ich das Blaulicht eines Rettungswagens vor der City-Station.

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Auf der Bank neben dem Eingang sitzt ein junger Mann, umgeben von Rettungssanitätern, zwei knien vor ihm und behandelnd seinen Fuß oder sein Bein. Daneben steht unsere Einrichtungsleiterin Anna-Sofie. Sie schaut besorgt, begrüßt mich kurz und wendet sich dann wieder dem Verletzten zu.Eine andere Mitarbeiterin aus dem Team klärt mich drinnen auf: Der junge Mann sei ihnen durchaus bekannt, ein polnischer Junkie, der immer mal wieder hier auftaucht. Eigentlich müsse er ins Krankenhaus.

Das Restaurant ist gut gefüllt mit Männern und Frauen, denen man ihre  prekäre Lebenssituation deutlich ansieht. Die meisten essen etwas. Es ist ziemlich ruhig. Ich nicke einigen der Gäste zu und gehe nach hinten durch in den kleinen Gottesdienstraum. Nach der Andacht wird er zum „Nachtcafé“ mit 20 Matratzen-Schlafplätzen umgebaut. Hier sitzen schon einige Gäste um einen Tisch, meist im Seniorenalter. Einer hat einen vollen Teller vor sich stehen mit warmem Kartoffelsalat („Viel zu viel Mayonaise!“) und Schnitzel. Später erzählt er mir, dass er als Kind mal Geige lernen sollte. Aber das wäre nicht seins gewesen. Ein osteuropäisches Paar spielt „Dummkopf“, ein Kartenspiel für zwei Personen.

Ich hatte vorgeschlagen, wenn sonst keiner da sei, können ich die Lieder begleiten. Und so spiele ich kurz die vorgeschlagenen Lieder auf dem Klavier durch – und kriege nach jedem Applaus!

Schließlich kommt Anna-Sofie von draußen rein. Sie sieht ziemlich mitgenommen  aus: „Unsere Andacht beginnt ein paar Minuten später“ sagt sie in die Runde, die sich inzwischen versammelt hat. Eine Frau um die 60 mit schwarz gefärbtem Haar antwortet spontan: „Aber, wir haben Zeit, Anna-Sofie! Wenn´s um Gott geht, dann kann man ja wohl Zeit haben.“ Wir gehen nochmal weiter durch in‘s Büro. Anna-Sofie berichtet: Diese Sanis wären echt toll gewesen, ganz aufmerksam und sorgfältig und zugewandt. Und sie hätten dem Junkie sehr deutlich erklärt, dass er sofort ins Krankenhaus muss. Mit dem Blutverlust und dann draußen auf der Straße: Er würde die Nacht nicht überleben! Beim Fixen hatte er sich am Schienbein die Haut komplett aufgerissen. Aber er hätte beharrlich abgelehnt. Nein, er müsse unbedingt noch was ganz Dringendes erledigen. Auch drei andere Polen, die als Übersetzer hinzugezogen wurden, waren nicht in der Lage, ihn zu überreden. Und weil seine Wunde nicht mehr suppte, blieb den Helfern nichts anderes übrig, als ihn unterschreiben zu lassen, dass er auf eigenen Wunsch nicht in Krankenhaus gebracht werde. Nichts zu machen: Erwachsen und bei einigermaßen klarem Verstand gilt schlicht das Selbstbestimmungsrecht. Machtlose Helfer!

Der Berliner Senat hat für diesen Winter die Notschlafplätze für Obdachlose erheblich aufgestockt. Und erschütternder Weise bleiben in vielen Nächten über 200 Matratzen leer.  Aus den unterschiedlichsten Gründen: Klaustrophobie, Angst vor osteuropäischen Obdachlosen, Misstrauen, Trotz, psychisch völlig durch den Wind… – Oft wird empört gefragt: Wie kann es in einem reichen Land wie unserem so viele Obdachlose geben? Die Gründe sind vielfältig. Es ist nicht nur die Wohnungsnot.

Im Gottesdienstraum  haben sich zur Andacht diesmal nur etwa 12 Menschen versammelt. Deutlich weniger als sonst. Aber auch verständlich nach einem Tag mit drei Hausverboten (jeweils mit Polizei), jemandem, der in den Eingangsbereich gekotzt hatte und dann noch dem verletzten Junkie. Da haben sich manche aus dem Staub gemacht.

Die anderen singen mit Begeisterung und so laut, als wären sie nicht 12, sondern 50: „Ich lobe meinen Gott, der aus der Tiefe mich holt, damit ich lebe!“

Die Biblische Lesung übernimmt immer einer der Gäste. Heute ist der Mann dran, der als Kind mal Geige gelernt hatte: Struppiges graues Haar und Flecken auf dem Pullover. Er liest wirklich gut und mit Verstand. Nur dass er mal eben aus den 72 Jüngern, die Jesus aussendet, 720 macht. Die sollen, laut Lukasevangelium in Häuser gehen und Frieden bringen. Wenn  jemand den Frieden nicht wolle, sollen sie einfach weggehen und den Staub von den Füßen schütteln. Hier sollte die Lesung planmäßig enden. Aber unser Lektor liest unbeirrt weiter. An seinem schelmischen Lächeln sieht man, dass er genau weiß, was er tut: Seine Lesung endet mit „Es wird Sodom erträglicher gehen an jenem Tag als dieser Stadt“.

Wiederum unbeirrt erklärt Anna-Sofie mit einfachen Worten, wie das mit dem „Frieden in ein Haus bringen“ geht. Und dann bekommen alle ein Stück Transparentpapier und Stifte, um gemeinsam ein „Kirchenfenster“ zu gestalten. Damit in Zukunft jeder, der zur Citystation kommt, sofort sehen kann: Dies ist ein Haus des Friedens. Alle malen und schreiben mit Hingabe und hochkonzentriert. Das osteuropäische Paar hat längst die Spielkarten beiseitegelegt. In den Fürbitten am Schluss kommen die auf Zetteln gesammelten Themen der Woche vor: Gebet um eine Wohnung; für eine Tochter, die krank ist; für den Frieden im Haus; für alle Helfer, die in dieser Nacht arbeiten…  Ganz nah am Leben.

Auf meinem Heimweg an diesem Abend lese ich nicht irgendetwas, wie meistens in der S-Bahn. Mein Kopf ist zu voll und mein Herz zu berührt.

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P.S.

Wie ich in den nächsten Tagen erfahre, waren mit dem bisher Erzählten die Herausforderungen des Tages noch immer nicht bewältigt: An dem Abend hat eine Dame noch einen Krampfanfall  bekommen und ein Gast hatte einen Schizophrenenschub. – Ich kann vor dem, was das Team dort leistet, nur meinen Hut ziehen.

Und:  Der junge polnische Mann hat tatsächlich überlebt. Er hat am Freitag noch seine „Geschäfte“ erledigt und ist in der Nacht in ein Krankenhaus gegangen, wo er weiter behandelt werden konnte. Also waren die Helfer doch nicht so machtlos. Gott sei Dank!

KirchenfensterFoto: Anna-Sofie Gerth