… wirklich! – aber inzwischen deutlich langsamer als in den ersten Monaten. Inzwischen sind wir in unserer Wohnung heimisch. Die Wege zur Arbeit sind vertraut. Auch viele andere Strecken sind zum Standard geworden. Orte, die vor ein paar Monaten noch etwas besonderes waren, werden selbstverständlich. Und: Die Arbeit wird umfangreicher; die Gedanken befassen sich auch unterwegs häufig damit. Dazu kommen bei mir vermehrt Dienstreisen. Das heißt, die Zeiten, in denen ich, in denen wir einfach so auf Entdeckertour sind, werden seltener.
Dabei hat die Neugier keineswegs abgenommen. Denn sobald ein wenig Luft ist, entdecken wir Neues, das wir noch nicht kennen, und stoßen auf „Denkwürdigkeiten“.
Das Titelbild ist einfach wenige 100 Meter von unserem Haus an einem kleinen Wassergraben aufgenommen. Abgesehen von der Schönheit des aufbrechenden Frühlings nicht weiter denkwürdig ;-), außer dass es einen anregen könnte, über die Kraft des Lebens nachzudenken, was ich aber jetzt nicht tun will.
Statt dessen möchte ich heute von zwei Entdeckungsräumen aus den letzten Wochen erzählen.
Zunächst einmal ging’s in den Südwesten von Berlin. Es interessant, wenn einem die Stadtteilnamen schon lange irgendwie schon etwas sagen – und man dann konkret dort hinfährt und mit offenen Augen durch die Straßen läuft. Vor ein paar Wochen also Dahlem und Steglitz.
Dahlem ist in mancherlei Hinsicht ein sehr traditionsreiches und denkwürdiges Pflaster.
Das fängt schon mit dem U-Bahnhof „Dahlem-Dorf“ an, der 1913 eröffnet wurde und auch wirklich nach Dorf aussieht. Laut Wikipedia wurde er 1987 in Japan zum schönsten U-Bahnhof Europas gekürt.
Das gegenüberliegende ehemalige Rittergut ist heute mit Agrarhistorischem Freilichtmuseum versehen.
Bisher war mir „Dahlem“ aber vor allem ein Begriff durch den Bekenntnispfarrer Martin Niemöller, unter dessen Leitung 1931 bis zu seiner Inhaftierung 1937 die Evangelische Kirchengemeinde hier zu einem Zentrum der Bekennenden Kirche wurde, die sich gegen die Gleichschaltung durch die Nazis, bzw. gegen die Vorscherrschaft der sog. „Deutschen Christen“ zu Wehr setzte. Das Bekenntnis zu Jesus Christus als dem alleinigen Wort Gottes, dem wir zu vertrauen und gehorchen haben, war der Anker, um nicht in den ideologischen Sog hineingerissen zu werden.
Und wahrhaftig – auf dem Friedhof neben der ev. St. Annen-Kirche finden wir den Grabstein von Helmut Gollwitzer und seiner Frau. Und gleich rechts daneben das Grab des evangelischen Theologen Friedrich Wilhelm Marquardt, der sich nach dem 2. Weltkrieg zentral dafür einsetzte, die Stimmen der Opfer zu hören, insbesondere das Judentum endlich auf Augenhöhe wahr- und ernstzunehmen. So wurde er zu einem wichtigen evangelischen Gesprächs-Partner im jüdisch-christlichen Dialog und brückenbauendem Talmutgelehrten.
Auf der Rückseite der Kirche entdecken wir folgendes Grab:
Dr. phil. Rudi Dutschke + 24.12.1979 in Aarhus. Wieder mal müssen wir feststellen, dass unsere zeitgeschichtlichen Kenntnisse nicht besonders präzise sind: War das nicht der 68er-Studentenanführer, der bei einem Attentat ums Leben kam?
Bei der anschließendenen Internet-Recherche erfahre ich, dass Rudi Dutschke nach dem Attentat und einer langen, mühsamen Zeit der Rekonvaleszenz schließlich noch promovierte und in Dänemark einen Lehrauftrag erhielt. Zu seinem Tod: „Rudi Dutschkes Tod war tragisch: Er ertrank am 24. Dezember 1979 in Aarhus nach einem epileptischen Anfall in seiner Badewanne. Der Anfall war eine Spätfolge des Attentats.“ (Planet Wissen)
Apropos Lehrauftrag: Etwa 10 Minuten zu Fuß von „Dahlem Dorf“ gelangt man auf den riesigen Campus der Freien Universität Berlin (FU), der nach dem Krieg gegründeten Westberliner Uni.
Die Berliner Schnauze hat schon längst aus dieser interessanten, zwischen 1967 und 1978 entstandenen Architektur die „Rostlaube“ und die „Silberlaube“ gemacht.
Weiter geht unser Tripp durch den Südwesten nach Berlin Lichterfelde (nicht zu verwechseln mit Lichtenberg oder Lichtenau oder Lichtenrade), das wir bisher nur als weit entfernte Station „unserer“ Waidmannnsluster S 1 kannten.
Ob wir hier wohl die Miete einer der unseren vergleichbaren Wohnung hätten finanzieren können?
Dritte Station auf unserem „Tagesausflug“ ist Steglitz. Hier fühlt man sich dann auch eher wieder in Berlin mit großstädtischer Bebauung wie dem Rathaus und dem sogenannten Bierpinsel:
Eine Denkwürdigkeit ist hier die Spiegelwand an der Stelle einer ehemaligen Synagoge, wo jetzt namentlich an die deportierten Berliner Juden erinnert wird.
Auch wenn man in Bezug auf die vielen Stellen der Welt und nun auch wieder in Europa den Eindruck hat, dass die Menschen einfach nicht aus der Geschichte lernen (wollen), so wird doch gerade dadurch unsere Aufgabe nicht geringer, sondern noch wichtiger: Sich und anderen unermüdlich bewusst zu machen, wie das Schüren von Vorurteilen, Hass und Gewalt unweigerlich in den Abgrund führt und aus Menschen Unmenschen macht, wenn sie anderen das Lebensrecht absprechen oder einfach nehmen. Und was für ein Segen es ist, über Jahrzehnte in einem Frieden zu leben, der in der Lage ist, mindestens ein gewisses Spektrum von Verschiedenheiten nicht nur zu ertragen, sondern dadurch zu gewinnen.
Wie gut, wenn wir durch Gedenkstätten und ähnliches immer wieder darauf gestoßen werden.
So auch am ehemaligen Mauerstreifen, dem zweiten denkwürdigen Entdeckungsraum, von dem ich berichten möchte.
Diesmal bin ich allein unterwegs: mit dem Fahrrad direkt von Zuhause entlang des nördlichsten Mauerstreifens, also rund um Frohnau und Hermsdorf. Wie absurd das Ganze war, merkt man, wenn man heute dem scheinbar willkürlichen Zickzack des Mauerweges folgt. Und wie Menschenverachtend, wenn man dann an die Mahnmale für Maueropfer kommt. Lauter junge Menschen (etwa im Alter unserer beiden größeren Kinder), die in einer Mischung aus Hoffnung und Verzweiflung das Unmögliche riskierten, weil sie die dumpfe Perspektivlosigkeit nicht mehr aushielten. Der sogenannte „antiimperialistischer Schutzwall“ wurde für sie zum Grab. Eine weitere – spätestens aus heutiger Sicht zynische Formulierung lerne ich beim Mittagessen in der Kantine von Sven Geisthardt, dem Leiter unserer Liegenschaftsabteilung und gebürtigem Pankower. Er hatte als Jugendlicher die erlaubte Reisefreiheit sogar bis nach Bulgarien genutzt, die Reisefreiheit „im Schutz der sozialistischen Staatengemeinschaft“. (Ich frage mich natürlich, ob wir heute anderen Formulierungen, die dem aktuellen Mainstream oder der politischen Großwetterlage entsprechen, auch kritisch genug gegenüberstehen und hohle Wortblasen durchschauen.)
Zurück in den äußersten Norden Berlins: In einem ehemaligen Wachturm hat sich inzwischen der Bund der deutschen Waldjugend eingenistet. Und insgesamt ist der Mauerweg bei Frohnau heute ein friedliches Naherholungsgebiet, das zum Wandern, Joggen, Radfahren und Reiten einlädt und durch idyllische Sanddünen und Kiefernwälder führt.
Ich denke, wie viel Geschichtsvergessenheit breiter Teile unserer Bevölkerung zu einer gefährlichen Undankbarkeit führt, die keine Ahnung hat, welche Friedenskompetenz uns unsere Schreckensgeschichte eigentlich verliehen hat.
Ich jedenfalls freue mich über jede Denkwürdigkeit, auf die ich bei unseren Entdeckungsreisen stoße.