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„Freunde, dass der Mandelzweig…“

Habt ihr schon mal erlebt, wenn rund 500.000 Menschen gleichzeitig und gemeinsam eine Minute schweigen? Für mich war das der eindrucksvollste Moment an diesem Sonntagnachmittag zwischen Brandenburger Tor und Großem Stern.

Mit so vielen hatten weder die Initiatoren noch die Polizei gerechnet. Und so wurden – als die gesamte Straße des 17. Juni voll war – für all die ernsten und nachdenklichen Menschen immer neue Flächen ausgewiesen: der gesamte Große Stern rund um die Siegessäule und dann füllte sich auch noch der Tiergarten. (Die von den Behörden rausgegebene Zahl von 100.000 Teilnehmern ist ein Witz. So viele waren allein am Großen Stern unter der Siegessäule)

Kein Volksfest! Sondern eine entschlossene Demonstration gegen diesen bösartigen, durch nichts zu rechtfertigenden Krieg. Alle Generationen. Viele Sprachen. Unzählige selbstgemalte, kleine und große Plakate. Und weil wir in Berlin sind, gabs natürlich auch manches Kuriose.

Unter den vielen starken Reden, denen zugehört wurde, ragte für mich die von Luisa Neubauer (Fridays for Future) heraus. Die ist ein rhetorisches Phänomen, dem man sich kaum entziehen kann: emotional und Fakten basiert, aufrüttelnd und ermutigend. Einer ihrer Kernpunkte war natürlich, der Zusammenhang zwischen versäumtem Klimaschutz und Kriegsfinanzierung durch den bedenkenlosen Import von russischem Öl und Gas (obwohl man es besser hätte wissen können). Ich hab sie zum ersten Mal live erlebt und bin beeindruckt. Auch die vorhergehende Rede von der EKG-Ratsvorsitzenden Annette Kurschuss fand ich inhaltlich und sprachlich stark („Was hast du getan? Das Blut deines Bruders schreit von der Erde!“ https://youtu.be/f0l_MZD9SmM) . Wobei sie nicht im entferntesten so zündete. Vielleicht auch, weil in Berlin eine Kirchenvertreterin einfach nicht solche Resonanz findet.

Stark war aber in allen Reden, dass sie ausdrücklich zwischen Putin und dem russischen Volk unterschieden. Und davor warnten, sich von Gedanken des Hasses anstecken zu lassen. Immer wieder wurde auch größter Respekt vor den russischen Demonstranten ausgedrückt, die (im Unterschied zu uns) ihr Leben riskieren.

Tragisch finde ich, dass mal wieder Appeasement-Politik die Skrupellosigkeit eines Diktators völlig unterschätzt hat – und sogar seinem Narrativ von einer Nato-Bedrohung auf den Leim gegangen ist. Inzwischen sind alle seine angeblich historischen Behauptungen und Rechtfertigungen eindeutig widerlegt (z.B. in der aktuellen ZEIT: https://www.zeit.de/2022/09/wladimir-putin-russland-westen-geschichte-fernsehansprache?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F ) Aber es wird auch immer deutlicher, wie blind wir waren, und „die Verantwortung vor unserer Geschichte“ dazu geführt hat, die Gegenwart nicht wirklich ernst zu nehmen (vgl. den absolut lesenswerten Tagesspiegel-Artikel von Osteuropa-Historiker Karl Schlögel: https://plus.tagesspiegel.de/politik/osteuropa-historiker-karl-schlogel-putin-will-auch-den-westen-in-die-knie-zwingen-406693.html )

Dieser Überfall auf ein Nachbarland, so viel unsägliches und sinnloses Leid er auch noch bringen wird, wird aber zugleich der Anfang von Putins Ende sein.

Die Solidarität mit den Ukrainern (jetzt endlich, in den letzten 8 Jahren sind in der Ostukraine bereits 14.000 Menschen gestorben!) nicht nur in ganz Europa und das Umsteuern der westlichen Politik macht Hoffnung. Wer hätte noch vor wenigen Wochen die Ukraine in der „Mitte Europas“ angesiedelt?

Ob die Großdemonstration von Sonntag, ob die jetzt wieder angelaufenen vielen Friedensgebete „Erfolg“ haben werden? Ich finde, das darf nicht das Kriterium sein. Es gibt Zeiten, da darf man nicht nach Erfolg fragen, wenn es darum geht, das Richtige zu tun. Und es gibt vieles, was wir tun können, zum Beispiel auch, wenn jetzt wieder viele, viele Menschen, die vor einem menschenverachtenden Krieg fliehen, in unser Land kommen. (Wobei bekanntlich jeder Krieg menschenverachtend ist.)

Erlauben wir es Putin nicht, uns die Hoffnung zu rauben auf ein Miteinander in Frieden und Gerechtigkeit! Lassen wir seinen Hass nicht in unsere Köpfe einziehen!

„Tausende zerstampft der Krieg, eine Welt vergeht.
Doch des Lebens Blütensieg leicht im Winde weht.
Freunde, dass der Mandelzweig sich in Blüten wiegt,
bleibe mir ein Fingerzeig, dass das Leben siegt.“

Schalom Ben-Chorin, 1942!

Katalanisches Referendum – der 1. Oktober 2017

Es ist noch dunkel, als schon über unserer Ferienwohnung nahe der Sagrada Familia ein Polizeihubschrauber knattert. Als wir gegen 10.30 aufbrechen, ist bereits die übernächste Straße blockiert durch eine große Menschenansammlung. Offenbar gibt es dort ein Wahllokal, vor dem die Leute schon so früh Schlange stehen. Irgendwo davor steht ein recht entspannter Regionalpolizist und: Tut nichts anderes als den Verkehr zu regeln. Ein Bild, das wir an diesem Tag noch häufig sehen werden.
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Wenige Kreuzungen weiter ist die Situation völlig anders. Wir werden von aufgeregt gestikulierenden Verkehrspolizisten gestoppt, und schon kommt von rechts eine schwer gepanzerte Einheit der guardia civil, also der Bereitschaftspolizei der Zentralregierung. Um sie herum laufen zornige Demonstranten, unsortiert und chaotisch das Ganze, guardia civil da schon von einer bedrohlichen Unerbittlichkeit.
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Wie sie später auf Menschen jeden Alters eindreschen werden, die in Sitzblockaden Wahllokale schützen wollen, oder gerade ihre Stimme abgegeben haben, sehen wir erst abends im Fernsehen. „Auftragsgemäß und angemessen“ werden die Einsätze von Madrid genannt, durch die fast 500 Menschen verletzt werden. Die Katalanen aber zeigen sich als friedliche Menschen, protestieren gewaltlos mit erhobenen Händen und teilweise singend. Ein beeindruckendes Beispiel gewaltlosen Widerstandes.

Wir fahren die Costa Durada Richtung Tarragona und stellen irritiert fest, dass in den meisten dieser Seebäder jeder Hinweis auf das Referendum fehlt. Keine Fahnen oder si -Tücher. Eher vereinzelte Spanische Flaggen. Ganz anders dann in Tarragona, der wunderschönen Stadt mit den beeindruckenden römischen Bauwerken. Allein in der überschaubaren Altstadt treffen wir auf vier Orte für Stimmabgabe. Und gleich vor der ersten warten die Menschen in zweihundert Meter langen Schlangen von beiden Seiten. Sie warten stolz, ja fröhlich und völlig entspannt. Es hat was von Familienfest.

Bei dem Wahllokal neben den Ruinen des römischen Zirkus erleben wir, wie der erste nach der Stimmabgabe wieder auf die Straße tritt und von den Wartenden mit frenetischem Applaus bejubelt wird: Ein alter, gebeugter Mann, gestützt von zwei jüngeren Menschen.

Auch in den Orten im Parc National Serra de Montsant, wo wir heute noch hinkommen, immer wieder das gleiche Bild: Ansammlung von Menschen, die sich selbst feiern: selbstbewusst und friedlich, auf der Treppe zum Marktplatz zu einem Dorfgemeinschaftfoto wie in Falset oder an einem longtable neben der Kirche wie in dem eng an die Felsen gekauerten Dörfchen La Vilella Baixa.

Inzwischen wird es Abend und die Menschen sitzen zusammen vor einem auf der Straße aufgebauten Fernseher, um die laufenden Berichte im Katalanischen Sender zu verfolgen. Über 3 Millionen Stimmen sind abgegeben worden. Das ist unter den gegebenen Umständen eine enorm hohe Zahl. Dieweil tritt Ministerpräsident Mariano Rajoy vor die Presse und erklärt ungerührt, er sei der Präsident aller Spanier und das Ganz sei einfach nur illegal und eine wiederrechtliche Provokation. Und überhaupt sei das Recht auf seiner Seite und das Referendum undemokratisch. Und deshalb sei er auch weiterhin als Präsident aller Spanier dafür verantwortlich, dass die Einheit der Nation gewahrt bleibe. Usw. 20 Minuten lang immer das Gleiche. Deutlicher kann ein Präsident nicht sagen, dass ihn die Interessen einer Region definitiv nicht interessieren. Er war es übrigens, der 2010 das vier Jahre vorher zwischen Madrid und Barcelona ausgehandelte Abkommen wieder kippte. Und jetzt schickt er seine paramilitärische Polizei in die Region und lässt sie Menschen zusammenschlagen. Kein Wunder, dass die Katalanen sich schrecklich an die Franko- Diktatur erinnert fühlen, die in Spanien wohl bis heute noch nicht ansatzweise aufgearbeitet worden ist. Nach dem heutigen Tag werden die begründeten Aversionen gegen die Spanische Zentralmacht jedenfalls alles andere als kleiner werden. Und das Töpfeschlagen um 22 Uhr geht weiter auch in dem kleinen Bergdorf im Schein eines ungerührten Mondes.
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Myfest

1. Mai in Berlin. Die Stadt brummt. Mal wieder mehr als eh schon. Erst recht bei diesem Traumwetter. Die Gewerkschaften haben eine Demontration vom Hackischen Markt zum Brandenburger Tor organisiert, woran einige Tausend teilnehmen. Aber richtig voll ist es in Kreuzberg beim sogenannten „Myfest“ (gesprochen wie Maifest, aber mit der englischen Bedeutung: Das ist mein Fest). So richtig Kreuzberg! Schrill. Laut. Links. Die Organisatoren haben in Ihrem Flyer (früher hieß sowas Flugblatt) parolenmäiß formuliert, worum es ihnen geht.

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Das Ganze auf 8 Bühnen zwischen Görlitzer Bahnhof und Moritzplatz, Skalitzer Straße und Mariannenplatz.

Ich habe mich circa drei Stunden lang unters Volk gemischt, die allergrößte Mehrheit davon 20 – 30 Jahre jünger als ich. Allerdings musste ich das Politische dann echt suchen.

Bei dieser Bürgersteig-Kunst hier in der Oranienstraße fällt es mir jedenfalls schwer, das politisch zu interpretieren:

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Also weiter. Ich spar mir jetzt erst mal meine Kommentare und zeige euch statt dessen meine Fotoserie. Macht euch selbst ein Bild.

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Also eigentlich eine Partymeile mit türkisch-arabischer Musik und unzähligen Rauchopfer-Grills. Auf dem Mariannenplatz mischen sich dann unter die Fress-Stände doch ein paar linke Infozelte.

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Was Waffeln mit dem Türkei-Deal zu tun haben, frage ich mich allerdings schon.

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Hinter der Bühne der Linken: Die St.-Thomas-Kirche. So wie Heilig-Kreuz beim Karneval der Kulturen am Pfingstmontag ist auch diese hier jetzt geöffnet. Und permanent gehen Menschen dort ein und aus. Innen ein modern gestaltetes Kirchenschiff (wobei man beim Blick nach oben genau sieht, bis zu welcher Höher das Renovierungsgeld gereicht hat). Deutlich weniger Trubel. Ein Tisch für Gebete, der intensiv genutzt wird.

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Das richtig alternative Kreuzberg gibts natürlich auch noch, wie hier das wilde Camp hinter dem Zaun mit den merkwürdigsten Wohnmobilen.

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Und natürlich darf die Einladung zur Hanfmesse Berlin in dem ebenso wilden Camp an der Schillingbrücke an so einem Tag auch nicht fehlen. (Hier findet man jetzt schon eine Weiterverarbeitung dieses Rohstoffes)

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Genauso wenig darf das riesige Polizeiaufgebot fehlen (Da kommen sogar auch nochmal die grünen Mannschaftsbusse zum Einsatz). In früheren Jahren gab es zum 1. Mai immer heftige Ausschreitungen.

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Dieses Jahr bleibt alles ruhig, jedenfalls zunächst.

Wie revolutionär ist Kreuzberg heute noch? Nicht nur Soziologen beobachten deutliche Verschiebungen. Auch diese Ladenbesitzer in der Oranienstraße, die die Kommerzialisierung und Partysierung des Myfestes als Abfall vom wahren Kreuzbergtum entlarven:

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Immerhin startet gegen 18 Uhr am Oranienplatz dann doch noch eine ziemlich spontane, aber genehmigte „Revolutionäre 1.-Mai-Demo“: Laut, mit Antifa-Fahnen, Böllern, dem Ruf „Refugees are welcome here“. In der Köpeniker Straße zählt die Polizei inzwischen 13.000 Teilnehmer. Am Ende, am Lausitzer Platz, fliegen dann doch noch an die 100 Flaschen auf die Polizei (nicht nur von Demonstranten, sondern auch von Touristen, wie der Tagesspiegel berichtet). Ansonsten gibt es offenbar kaum Übergriffe. Auf der Oberbaumbrücke geht die Musikparty jedenfalls ungestört weiter.

Vernünftig – oder läppsch geworden?

Kontrastprogramm am Morgen:

Heute haben wir vom missionarischen Team der Stadtmission ein neues Veranstaltungsformat gestartet:

Mit_Gott_auf_der_Spree-2016-1_02_9ba01a525dAb dem 1. Mai findet an den ersten Sonntagen im Monat nicht mehr der traditionelle Schiffsgottesdienst statt, sondern diese 90-minütige Bootsfahrt mit überraschenden Entdeckungen, Live-Musik und den eben etwas anderen touristischen Hintergrundinformationen während der Bootsfahrt. Zum Abschluss gibt es ein Friedensgebet und eine Strophe „Geh aus mein Herz“.

Obwohl die Reederei die Werbung verschnarcht hatte, war das Schiff fast voll. Und die Gäste waren von unseren Erklärungen und Anekdoten, der Musik von Sebastian Bailey (Saxofon, z.T. von mir auf Gitarre begleitet), dem Quizz und den geistlichen Inhalten begeistert. Den Löwenanteil der inhaltlichen Vorbereitung hatte Lorenz Bührmann übernommen, der aber als ausgebildeter Domführer auch besonders befähigt ist. Und immer noch ne Story in Reserve hat! Das war auch gut so, denn zwischendurch blieben wir fast eine halbe Stunde am Nikolaiviertel mit Motorschaden liegen – was aber die Stimmung überhaupt nicht trübte.

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Die nächsten Termine (gleiches Programm, aber andere Mitwirkende) findet ihr auf der Homepage: http://www.berliner-stadtmission.de/aktuelles/mit-gott-auf-der-spree/

Dort findet ihr wie immer auch das Spendenkonto, falls ihr diese Veranstaltung finanziell unterstützen mögt.

Zum Schluss noch ein wichtiger Hinweis:

Bis  August werde ich jetzt mit dem Blog pausieren. Sven Lager und ich schreiben gerade an einem Buch mit Geschichten aus unserer Flüchtlingsarbeit mit Erläuterungen zur Praxis und zum theologischen Hintergrund. Und das hat jetzt Vorrang, damit es Anfäng nächsten Jahres erscheinen kann (Brunnen-Verlag). – Meine öffentlichen Termine aktualisiere ich aber weiterhin.