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Wenn Neujahr und Ostern zusammenfallen…

Mit der Überschrift will ich nicht auf das immer noch nasskalte Wetter über Ostern anspielen. (Am Osterdienstag auf der Rückfahrt von den Osterbesuchen in NRW kamen wir im Sauerland noch in eine Schneeregen-Schauer.) Ich möchte euch vielmehr von einem persischen Neujahrsfest erzählen, bei dem ich Montag vor Ostern teilnehmen durfte. Eingeladen hatte mich der iranische Bibelkreis, der vor knapp einem Jahr in unserem ersten Flüchtlingsheim „Haus Leo 1“  von vier Personen gegründet wurde und inzwischen auf ca. 40 angewachsen ist.

In Persien wird Neujahr zum Frühlingsanfang gefeiert. Das Jahr beginnt, wenn auch die Natur wieder neu auflebt. Im Titelbild seht ihr einen nach traditionellem Persischen Brauch aufgebauten Neujahrs-„Altar“. Dazu gehören sieben verschiedenen Symbole für das Leben, die auf Farsi alle mit dem Buchstaben „S“ anfangen. Aber denkt jetzt nicht, ich hätte mir auch nur eine dieser Vokabeln merken können. – Immerhin habe ich an dem Nachmittag gelernt, dass es auf Farsi verschiedene Worte für „Danke“ gibt, unter anderem „sepass“ (mit scharfem Anlaut-s). – Auf den Neujahrsaltar gehören jedenfalls Dinge, die wir auch als Lebenssymbol kennen, wie das frische Gras und das Ei. Natürlich gibts auch spezielles Neujahrsgebäck (leicht und lecker). Aber es darf auch ein Glas mit drei Goldfischen nicht fehlen. Die werden übrigens später in ein freies Gewässer entlassen.Blog 39-12

 

 

Das besondere an diesem persischen Neujahrsfest war aber jetzt, dass es von persischen Christen gefeiert wurde und zwar in der Kapelle im Zentrum der Stadtmission. Und wenn wie in diesem Jahr nur wenige Tage zwischen Frühlingsanfang und Ostern liegen, dann ist für die iranischen Christen klar, dass sie ihr traditionelles Brauchtum auf die Christusgeschichte deuten. Das neue Jahr und das neue Leben beginnt mit dem Gekreuzigten und Auferstandenen.

Und so haben sie auch ohne große Mühe die traditionellen Farben der Tischdecke umgedeutet und zusätzlich als Fahnen im Tanz durch den Raum getragen:Blog 39-1 Rot als Symbol für das Blut, das Christus vergossen hat, Gold als Farbe seiner Königsherrschaft nach der Auferstehung. Ich fühle mich erinnert daran, was ich vor Jahren über die frühen keltischen Christen gelesen habe: Wie sie auch sehr offensiv – aber nicht aggressiv – heidnisch-keltische Bräuche einfach umgedeutet haben. Aus dem geisterbeschwörenden, angstbesetzten Halloween wurde das Fest zu Ehren der verstorbenen christlichen Heiligen, die uns im Glauben Rückenwind geben, usw.

Überhaupt hatte ich bei meinen Begegnungen mit diesen persischen Christen in den letzten Wochen mehrfach den Gedanken, dass deren Glaubensweg etwas Urchristliches hat.

Von etablierter Kirche, klaren Strukturen oder gar Ausbildungsstandards jedenfalls keine Spur. Statt dessen begann alles im Iran mit einem Traum, in dem einer muslimischen Frau Jesus begegnet ist und ihr gesagt hat: „Ich will was mit dir anfangen.“ Nach dem Aufwachen hatte sie diesen Traum noch sehr präsent und zugleich kaum eine Ahnung, von wem sie da eigentlich geträumt hatte. Also begannen sie und ihr Mann im Internet zu recherchieren, was es eigentlich mit diesem Jesus auf sich hat. So sind sie Christen geworden, besorgten sich (verbotener Weise) eine Bibel, ließen sich (in einer anderen Stadt) taufen und begannen höchst kreativ ihren Glauben an Christus zu verbreiten. – Bis eines Tages jemand vor ihrer Tür stand und sagte: „Ihr seid Christen geworden und missioniert. Das werdet ihr noch bereuen.“ Daraufhin haben sie alles stehen und liegen lassen und das nächste Flugzeug nach Europa genommen…

Und jetzt bauen sie hier eine neue persische Gemeinde auf, mit Iranern, die schon lange in Deutschland sind, Flüchtlingen der letzten Jahre (wie sie selbst), die inzwischen anerkannt sind und in regulären Wohnungen leben, und Neuankömmlingen, die seit ein paar Monaten in irgendwelchen Turnhallen untergebracht sind. Nicht alle sind Christen. Für manche ist dieses Neujahrsfest einfach ein Stück Heimat, egal ob in christlicher Variante.

In der gottesdienstlichen Feier gibt es zwei Blog 39-4Predigten, mehrere Lebensberichte und Glaubenszeugnisse – und viele Lieder. Die werden größtenteils von einem etwa 13jährigen Jungen souverän auf der Geige begleitet.

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Die Frische des Glaubens, ohne die Schwierigkeiten auszublenden, und die Aufmerksamkeit, mit der aufeinander gehört und füreinander gebetet wird, ist für uns in Deutschland aufgewachsene Christen eine überraschende Ermutigung

Nach dem Gottesdienst gibt es Tee und Gebäck. Und dann wird zu traditioneller persischer Musik getanzt, dass die Bude wackelt. Blog 39-15Eine fröhliche, ja ausgelassene Stimmung. Und die Frauen stehen nicht (wie z.B. bei den Syrern) am Rand, sondern tanzen selbstbewusst mit. Iranische Frauen – jedenfalls in den Städten – sind ziemlich emanzipiert, bekomme ich erklärt. Und nun in der Diaspora und in christlichen Kontext entsteht für sie noch viel mehr Freiraum.

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Nach Musik und Tanz gibt es endlich Abendessen. Wir sind bereits 5 Stunden zusammen, und ein fleißiges Team um einen fähigen Koch hat traditionelles persisches Essen zubereitet, mit Safranreis und einer Art Lammgulasch mit grüner Kräutersoße. Sieht zwar etwas merkwürdig aus, ist aber sehr, sehr lecker.

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Und so verwandelt sich die Kapelle in einen Festsaal der Dankbarkeit. „Herzlichen Blog 39-27Glückwünsch zu Neujahr. Christus ist auferstanden.“

Natürlich muss ich mich am Neujahrsaltar zusammen mit dem schon seit 50 Jahren in Deutschland lebenden „Gemeindeübersetzer“ (beruflich Ingenieur) und dem jungen Gemeindeleiter Blog 39-11fotographieren lassen. Immerhin bin ich „Ehrengast“.

Ich gehe davon aus, dass die iranische Bibelgruppe nur der Anfang eines neuen Schwerpunktes der geistlichen Arbeit bei der Berliner Stadtmission ist. Denn es gibt immer mehr Migrationsgemeinden, die nicht ganz auf sich allein gestellt sein wollen, auch nicht nur Raum-Mieter sein wollen, sondern Anschluss suchen zu einheimischen Christen und Gemeinden.

Ich bin jedenfalls ausgesprochen gespannt, was sich in diesem Bereich entwickeln wird. Ihr werdet davon erfahren. Morgen ist in der iranischen Bibelgruppe jedenfalls das nächste reguläre Treffen und ich bin eingeladen, die Bibelarbeit zu halten.

Eine ganz besondere Begegnung von Einheimischen und Flüchtlingen gab es beim Jahresfest der Stadtmission am 6. März, das wir diesmal in unserem Flüchtlingszentrum

Berliner Stadtmission Jahresfestgottesdienst 2016, Foto: Jan-Eri

So können Flüchtlinge und Einheimische miteinander feiern (Foto: Beriner Stadtmission)

in der Mertensstraße in Spandau gefeiert haben. Leider ist dort die Infrastruktur immer noch längst nicht so, wie sie sein sollte. Alle notwendigen Maßnahmen sind unendlich zäh. Aber dieser Tag war ein echtes Begegnungsfest. Mit der Projektband, die ich zusammengestellt hatte, konnten wir richtig Stimmung machen. Nach dem Gottesdienst und dem arabischen Mittagessen setzte die Big Band der Bundespolizei dann musikalisch nochmal richtig einen drauf.

Am Schluss möchte ich euch noch auf etwas anderes hinweisen: Im Winter konnte über unserer Ambulanz für Obdachlose noch eine kleine stationäre Krankenstation mit vier Betten eingerichtet werden. Die Leiterin Svetlana Krasovski hat erzählt, wie groß die Hilfe ist, die obdachlose Menschen hier erfahren: Ein paar Tage medizinisch aufgepäppelt werden, sich nicht im täglichen Überlebenskampf über Wasser halten müssen, wie ein „normaler Kranker“ gepflegt zu werden – das hat unglaublich ermutigende Wirkung. Bei mehreren hat der Aufenthalt in der Krankenstation gleich zu den nächsten Schritten einer Stabilisierung im Leben geführt: Aufnahme in eine Wohneinrichtung, Wiedereinstieg in die Krankenkasse, betreutes Wohnen oder auch ein Ende von Selbstverletzungen.

Finanziert wird das Ganze über Spenden. Gerade läuft eine Spendenverdoppelungs-Aktion für diese Arbeit, unterstützt durch die Deutsche Bahn Stiftung:

Ab dem 21. März  wird jede Spende bis 200€ von der DB-Stiftung verdoppelt, bis der bereitgestellte Betrag von 5000,-€ ausgeschöpft ist. Helft mit und spendet über den Link  für medizinische Versorgung für obdachlose Menschen: Gutes tun: Ambulanz

Mit einem Foto von der gestrigen Wanderung um den frühlingshaften Schlachtensee wünsche ich euch mancherlei Erfahrungen von erwachendem Leben.

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„Das Beste an Weihnachten ist…“

Berlin ist immer wieder für eine Überraschung gut. Und zwar nicht nur Überraschungen, die zum „alles-ist-möglich“-Klischee passen oder zum „Berlin-is-ne-riesen-Party“-Klischee. Letzteres wird natürlich auch in der Adventszeit intensiv bedient. So zum Beispiel auf der Kirmes an der Jannowitzbrücke, die zu Recht nicht Weihnachtsmarkt heißt. Wobei ich den offiziellen Titel „Wintertraum“ jetzt auch nicht unbedingt passender finde. Aber das liegt wahrscheinlich an mir.

Blog 37-10Das gnadenlosen Nebeneinanderstellen von sehr unterschiedlicher Bildsprache bei dieser Volksbelustigung hat mich allerdings schon ein bisschen sprachlos gemacht: Gebrannte Mandeln und Horror-Achterbahn, Nikolaus und Revolverheld.

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So grotesk mir das auf den ersten Blick erschien, so kann man genau dieses Aufeinanderprallen aber auch als treffenden Spiegel unserer aktuellen Lage sehen.
Die Welt ist aus den Fugen geraten. Gut und Böse, Krieg und Frieden lassen sich immer weniger auseinander sortieren.

Wir sind im Krieg. So jedenfalls muss man es doch verstehen, wenn jetzt unsere Soldaten und Flugzeuge an der Seite Frankreichs und anderer den Feind IS mit militärischen Mitteln zu vernichten, mindestens zu schwächen versuchen.
Wir sind im Krieg, wenn schwarz-weiß-Propaganda – egal ob von rechts oder links außen – jede differenzierte Wahrnehmung der Wirklichkeit verhindert.
Wir sind im Krieg, wenn wir womöglich fürchten müssen, dass neben uns eine Bombe explodiert. Wenn in einem Jahr über 500 Anschläge auf Flüchtlingswohnheime ausgeübt werden und auf facebook die menschenverachtendsten Dinge gepostet, „geliked“ und geteilt werden.
Wir sind im Krieg, wenn der Hass auch bei uns in die Köpfe einzieht, der Hass, der im Flüchtling nicht mehr den Mitmenschen sieht, sondern nur die Gefahr, oder der ideologische Hass, der im angstbesetzten und überforderten Einheimischen nur noch den Nazi sieht.

Lukas-Kantorei in der St. Lukas Kirche

Adventskonzert der Lukas-Kantorei  in der St. Lukas Kirche

„Tochter Zion, freue dich, jauchze laut Jerusalem … ja er kommt, der Friedefürst“, haben wir in der Adventszeit gesungen, in Gottesdiensten und Adventskonzerten. Aber ist das nicht nur ein Pfeifen im Wald angesichts des zunehmenden Unfriedens – auch zwischen den unterschiedlichen Gruppen in unserem eigenen Land. In der Adventsfeier für die Mitarbeitenden der Stadtmission bin ich in meiner Predigt über Sacharja 9,9-11 zu folgenden Schlüssen gekommen:

Plötzlich wird das Trostwort zu einer klaren Herausforderung: Auf welche Seite stellen wir uns mit unserem Denken, Reden und Handeln?
Auf die Seite derer, die um sich schießen – und sei es mit Worten? Oder auf die Seite des Messias-Königs, dessen Reich sich ganz anders ausbreitet?
Er bedient sich eben nicht der Mittel der anderen Machthaber und Gebieter. Er reitet eben nicht auf einem Ross oder auf einem Kriegswagen ein. Er benutzt nicht Böses zur Eindämmung des Bösen. Er arbeitet nicht mit Druck und Drohung. Und doch hat er die stärkeren Argumente. Weil er selbst frei ist von Hass und Angst, entsteht um ihn herum ein immer größerer hass- und angstfreier Raum.

Durch seine Versöhnung und die Kraft seines Wortes sind Menschen aus allen Völkern zu Liebhabern des Friedens geworden, zu Boten von Gerechtigkeit und Hilfe, die jetzt schon ein messianisches Versöhnungs-Netzwerk bilden „von einem Meer bis zum anderen.“ Und wir dürfen und sollen dazugehören.
An seiner Seite weicht die Angst, auch wenn die Verhältnisse noch beängstigen sind.
An seiner Seite fällt Menschenverachtung ziemlich schwer, selbst wenn andere uns als Hunde bezeichnen.
An seiner Seite wird Hass als Sackgasse enttarnt, weil Liebe den Hass ins Leere laufen lässt.
An seiner Seite entstehen verblüffende Handlungs-Alternativen, auf die die Feinde niemals kommen würden: „Tut wohl denen, die euch hassen.“

Das ist das Beste an Weihnachten, dass wir freien Zugang zu solchen Alternativen bekommen haben, die transformierende Kraft haben. Damit kommen wir vielleicht auch mal über das alljährliche Gejammere über den ganzen Weihnachtskonsum hinaus, das nichts ändert. Nicht ändern kann, solange man sich auch damit immer nur um sich selbst dreht. Blog 37-7Ich finde jedenfalls, der Adventskalender der Geschäfte im Hauptbahnhof hat etwas entwaffnend Ehrliches.

Welche transformierende Kraft die Versöhnungsbotschaft aber haben kann, war vor wenigen Wochen in der neuen von der Stadtmission betriebenen Notunterkunft für etwa 1000 Flüchtlinge in Spandau zu erleben. Zum Hintergrund muss zunächst erklärt werden, dass wir erst ganz frisch die Erlaubnis des Landesamtes haben „unsere Standards“ einbauen zu dürfen, d.h. ausreichend Sanitäranlagen, Waschmaschinen, Raum-in Raum-Kabinen (statt riesiger nur mit Bauzäunen abgetrennter Schlafbereiche), Spiel- und Betreuungsräume für Kinder usw.. Nicht mal das Licht war in der Nacht auszuschalten, weil es keine Notbeleuchtung gab. Also total stressige Umstände. Dazu die Ungewissheit, das Warten, die Fremdheit…

Durch irgendeinen letzten Tropfen lief das Fass über und es gab in der Nacht zum 1. Advent eine Massenschlägerei mit Einsatz von Polizei und Krankenwagen.

(Foto: Berliner Stadtmission)

(Foto: Berliner Stadtmission)

Feuerlöscher wurden zweckentfremdet und einiges ging zu Bruch. Die Einrichtungsleitung und weitere Mitarbeitende der Berliner Stadtmission waren aber vor Ort und begannen sofort mit Deeskalation und Aufräumarbeiten – die ersten, die mit anpackten, waren die Flüchtlinge selbst.

Schon am nächsten Vormittag wurde mit den Instandsetzungsarbeiten begonnen – zusammen mit den Bewohnern. Gemeinsam traten Vertreter aus den verschiedenen Volksgruppen vor die Bewohner und riefen zum Frieden auf. Pakistanis, Syrer, Kurden, Iraker, Afghanen, Männer wie Frauen und Kinder reichten sich die Hände. Beteiligte der Auseinandersetzung entschuldigten sich.

(Foto: Berliner Stadtmission)

Versöhnungsfest (Foto: Berliner Stadtmission)

„Wir alle wollen Frieden. Es gibt immer ein paar Wenige, die Schaden anrichten – in jeder Gruppe“, war die einhellige Meinung in den Gesprächen.

Am Nachmittag, schon 16 Stunden nach Beginn der Aufräumarbeiten, fand ein Fest des Friedens statt, bei dem sich diejenigen, die als erste ausgerastet waren, bei allen entschuldigten.

Zurück zu den Berliner Überraschungen. Im Rheinland waren wir es gewohnt, dass man beim Einkaufen an der Kasse usw. nicht etwa „Frohe Weihnachten“ gewünscht bekam, sondern weltanschaulich neutral „Schöne Feiertage“ (wie auch an Ostern und Pfingsten). Wie überrascht waren wir jetzt in Berlin, beim Brötchenholen oder Wochenendeinkauf oder im Fahrstuhl als Gruß „Einen schönen 1. Advent“ zu hören.

Und man denkt: Ganz so gottlos ist Berlin doch nicht.

afrikanische Krippe beim "Markt der Kontinente" in den Dahlemer Museen

Afrikanische Krippe beim „Markt der Kontinente“ in den Dahlemer Museen

Wobei dann auch schnell wieder eindrückliche Gegenbeispiele kommen. Bei der Weihnachtsfeier der Wohnhilfen (Eingliederungshilfe für ehemalige Obdachlose bzw. von Obdachlosigkeit bedrohte) habe ich gefragt, wer eine Krippe kennt von zu Hause oder aus der Kirche. Von den 25 Personen (einschließlich Mitarbeiter) meldeten sich vielleicht sechs und nur eine, die zu Hause eine Krippe hatten.

Gleichzeitig ist diese geringe religiöse Vorprägung auch immer wieder ein schöne Gelegenheit, Interesse zu wecken, sozusagen brachliegenden Boden zu bestellen.

Daran arbeiten wir, d.h. mein Kollege Andreas Schlamm und ich, auch in den verschiedenen innerbetrieblichen Fortbildungen.

Und darum geht es natürlich auch in der Heilig Abend Feier für Wohnungs- und Obdachlose heute Nachmittag im Zentrum am Hauptbahnhof. Inzwischen sind ca. 60 % der Obdachlosen in Berlin Osteuropäaer, die bei dem Versuch, hier ihr Glück zu machen, gestrandet sind. D.h. in dem Kurzgottesdienst muss möglichst vieles auf Polnisch und Russisch übersetzt werden. Rumänisch wär auch gut. Und die Botschaft von der Nähe Gottes zu unserem Leben muss sichtbar werden. So sieht unsere Bethlehem-Szene zur Weihnachtsgeschichte auch ein bisschen anders aus, als sonst in Krippenspielen.Blog 37-33

Für Obdachlose haben wir übrigens jetzt im Dezember neben der Bahnhofsmission Zoo (wieder einmal finanziert durch die Deutsche Bahn Stiftung sowie den Berliner Senat) ein Hygienezentrum eingerichtet, in dem Menschen von der Straße, zur Toilette gehen, duschen, waschen und sich die Haare schneiden lassen können. Wie viel Wertschätzung liegt darin, so gebeutelten Menschen ein solch edles Ambiente bereitzustellen!

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Im Refugio in Neukölln entwickelt sich inzwischen eine geistliche WeggemeinschaftBlog 37-30 als Keimzelle des geplanten Stadtklosters:

Jeden Dienstag und Freitag gibt es um 8 Uhr ein offenes liturgisches Morgengebet. Einmal im Monat (an einem Abend in der Woche) feiern wir einen internen Abendmahlsgottesdienst mit viel Stille.

Blog 37-31Dann essen wir als Weggemeinschaft mit zur Zeit 8 Personen gemeinsam Abend. Und einer erzählt seine geistliche Lebensgeschichte.

Aber auch die Gemeinschaft von Einheimischen und Neuankömmlingen im Refugio entwickelt sich positiv weiter. Genauso wie das Café und die programmatische Reflexion der Arbeit:

Sharehaus Refugio ist ein Ort, wo man Zuflucht finden kann, d.h. Schutz und Heimat, wo Gemeinschaft in gegenseitiger Wertschätzung und Unterstützung gelebt wird und Raum ist, Erneuerung zu erfahren und zur Erneuerung der Gesellschaft beizutragen.

Zum Schluss noch zwei musikalische Leckerbissen des Advents:

  1. Das Benefizkonzert (für unsere Kältehilfe) der Soulsängerin Jocelyn B. Smith in der Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche. Sie ist inzwischen nicht mehr die Jüngste, aber verströmt dermaßen viel Energie und Menschenfreundlichkeit, dass die rappelvolle Kirche innerhalb von gefühlten 30 Sekunden auf den Beinen ist, mitsingt und – tanzt.Blog 37-17 Blog 37-19
  1. Ein ganz kleines Format in der S-Bahn. Blog 37-22Häufig gibt es Musiker oder Gruppen, die reinkommen, ganz kurz Musik machen, 36 Takte später schon mit ihrem Becher rumziehen, um Geld zu sammeln, und bei der nächsten Station wieder verschwunden sind. Ein osteuropäischer Gitarrist morgens machte es anders. In aller Ruhe und Bescheidenheit spielte er drei oder vier virtuose klassische Gitarrenstücke. Nach und nach schauten immer mehr von ihren Handys, Zeitungen und Büchern auf, Stöpsel wurden aus Ohren gezogen und man lächelte sich an. Einige verzauberte Minuten. (Übrigens: Ein durchaus geschicktes Geschäftsmodell, wie mir scheint, jedenfalls im Bezug auch auf meine Bereitschaft, nicht nur 50 Cent zu geben.)

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Alles in allem gibt es für uns viel Grund, mit großer Dankbarkeit auf eine Jahr zurückzublicken, das so voller Leben war.

Ich danke Euch fürs Lesen, Anteilnehmen und alle Rückmeldungen. Und wünsche Euch jetzt gesegnete Weihnachten, erfreuliche Jahresrückblicke und Gottes Segen für das Kommende.

Bunter geht Herbst nicht!

Ihr werdet Euch vielleicht schon gewundert haben, dass auf dieser Frequenz so lange Funkstille war. Es lag schlicht daran, dass dieser Herbst für mich dermaßen bunt und gefüllt war, dass ich nicht dazu gekommen bin, mal wieder Blog zu schreiben. Ja, ich kriege es aus dem Kopf auch kaum noch zusammen, zu welchen Anlässen ich außerhalb von Berlin unterwegs war:

Ende September:
Vorstand und Mitgliederversammlung des Gnadauer Verbandes in Bensheim/Bergstraße.

Urlaub im Harz (das Titelfoto habe ich in Quedlinburg aufgenommen) und in Weimar, wo wir eingetaucht sind ins Herz klassischer deutscher Kultur – was für ein Reichtum, an dem wir auch „Neulingen“ in Deutschland Anteil geben können. Wie universal und völkerverständigend hat ein Goethe bereits gedacht.Blog 36-4 Blog 36-3

(Wie beeindruckend auch, vor den Original-Bildern und Skulpturen zu stehen, die ich schon aus Schulbüchern kenne)

12. Oktober:
Fahrt zur Verleihung des Deutschen Architekturpreises für die kölner Immanuel-Kirche nach Hannover ins Schloss Herrenhaus:

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Das hatte schon was: An der Spitze eines Auswahlverfahrens unter 160 vorgeschlagenen Projekten zu landen. Aber wirklich zu Tränen gerührt war ich, als Professor Sauerbruch nachher im kleinen Kreis zu Christiane Friedrich (Presbyteriumsvorsitzende in der Brückenschlag-Gemeinde in Köln) und mir sagte, dass er das Preisgeld in Höhe von 25.000 € je zur Hälfte an die Gemeinde in Stammheim/Flittard und für meine Arbeit bei der Stadtmission spenden wolle. Auch an dieser Stelle ein ganz herzlicher Dank dafür!

Ende Oktober sind wir zunächst ein Wochenende zum 93. Geburtstag meiner Mutter in den „Westen der Republik“ gereist.

Und kurz vor dem Monatswechsel war ich nochmal dienstlich in Kassel – Treffen des Gnadauer Vorstandes mit Vertretern der EKD – und Marburg -Treffen mit den Dozenten der Theologischen Hochschule Tabor, weil wir in Berlin in Kooperation mit Tabor einen neuen Bachelor Studiengang gründen wollen, in dem theologisch- und gemeinwesen-kompetente Gründer von „Neuen Evangelischen Orten“ (NEOs) ausgebildet werden. (Die Idee, solchen Projekten anstelle des englischen „fresh-X“ einen schönen und sinnvoll abkürzbaren Namen zu geben, stammt von meinem Kollegen Andreas Schlamm). Aber natürlich wird der Studiengang nicht nur zu Neugründungen sondern zur Transformation bestehender Arbeit befähigen – ganz im Sinne des Gnadauer Programms „Neues wagen“.

Vorige Woche waren wir dann noch mit der Erweiterten Konvent der Berliner Stadtmission (also auch alle Einrichtungs- und Projektleiter) zu einer dreitägigen Klausur in unserem Luther-Hotel in Wittenberg. Hier der Blick aus meinem (fliegenvergitterten) Hotelfenster auf die Stadtkirche und zwei Fotos aus dem Lutherhaus, einem anderen Herzstück der deutschen Kultur, dessen Besuch bei mir ähnliche Gefühle und Gedanken auslöste, wie Weimar.

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Dieser Spruch von Martin Luther markiert nun zugleich ein hochaktuelles Thema. Denn einerseits ist völlig klar, dass die Kirche es überaus dringend braucht, sich aus ihren Mauern und Scheuklappen nach draußen zu begeben mitten hinein ins Leben, in die Alltagskultur, und das heißt in die kreative Avantgard genauso wie in die „Raucherecken“, in die Plattenbauten wie in die Flüchtlingshallen. Also „Inkulturation“.

Aber das doch immer so, dass zugleich deutlich wird, inwiefern eine von Jesus her geprägte „Denke“ nochmal ganz andere Perspektiven einbringt. Also „Kulturkritik“.

In der Flüchtlingsarbeit z.B.: Der Staat und die politisch eher links geprägten Engagierten würden am liebsten Religion ganz ausklammern (auch die innerhalb der Kirche). PEGIDA und ähnlich gelagerte evangelisch-rechtskonservative nutzen jede Gelegenheit, den Islam vollkommen undifferenziert zu dämonisieren. Und leider gibt es auch bereits respektlose und manipulative Missionierungsversuche, die dem Geist Jesu widersprechen.

Aber „Wo Christus ist, geht er allezeit wider den Strom.“ Man könnte auch sagen: Setzt er sich zwischen alle Stühle. Und genau daran arbeiten wir auch als Berliner Stadtmission fleißig:

Denen, die in den Notunterkünften schon direkt und ungebeten arabische Bibeln verteilen wollen, erteilen wir eine Absage. Zugleich arbeiten wir daran, wie alle Neuankömmlinge in offener Weise kennenlernen „wie Deutschland“ tickt – und das bedeutet natürlich, wie stark das Land aus dem christlichen Glauben heraus geprägt ist und was christlicher Glaube heute bedeutet. 90 % derer, die zu uns kommen, sind religiöse Menschen. Wie verantwortungslos wäre es, dieses Thema zu tabuisieren. Denn erst, wenn wir miteinander darüber ins Gespräch kommen, statt auszublenden oder überzustülpen, kann es gelingen, dass Frieden untereinander wächst und die Flüchtlinge etwas lernen, dass sie zuhause nie haben lernen können: Dass Versöhnung, dass Frieden zwischen Unterschiedlichen möglich ist. Und – oft nicht zu Ende gedacht – suchen sie doch auch deshalb gerade bei uns Zuflucht. Aber wir müssen ihnen beibringen, wie das gelingen kann – sofern wir selbst dazu in der Lage sind. „Wo Christus ist“, sind wir dazu in der Lage. Denn „die Liebe treibt die Furcht aus“.

Zurück zur Berliner Stadtmission:

Vor vier Wochen haben wir – mal wieder in einer unvergleichlichen Hauruck-Aktion – die Trägerschaft für eine neue Flüchtlingsnotunterkunft übernommen: Diesmal im Norden von Spandau in leerstehenden Industriehallen und für eintausend bis eintausendfünfhundert Flüchtlinge.

Leider sind wir – abgesehn von der Schwierigkeit innerhalb weniger Wochen mindestens 60 geeignete Personen für die Arbeit einzustellen –  dort in der Zwickmühle, dass wir die notwendigen Einbauten nicht selbst vornehmen dürfen, sondern das Berliner Immobilienmanagement im Auftrag des LaGeSo (Landesamt) dafür sorgen muss. Man muss leider mal wieder sagen: Wo Berlin drauf steht, ist auch Berin drin :-(.

Dementsprechend sind die sanitären Anlagen auch nach vier Wochen noch unverändert… – ich will nicht zu viel sagen. Auch alles andere, was unseren Standards entspricht und zugesagt wurde, fehlt immer noch. Eine sehr schwierige Situation. Aber mal wieder mit unfassbar engagierten Mitarbeitenden und bereits Hunderten von Freiwilligen. Sonst ginge es gar nicht. Hier ein paar ganz nette Fotos:

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Rund ums Thema Frieden drehte sich auch das große und wunderbar multikulturelle Friedensfest (mit vielen Partnern aus der Straße) vor unserer St. Lukaskirche am 4.10.:

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Friedensfest in der Bernburgerstraße

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Vereinigte Chöre – einschließlich Gebärdenchor der Gehörlosengemeinde (im Foto rechts)

 

 

 

 

 

 

 

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Auf den Spuren von Krieg und Frieden waren wir auch am vorigen Sonntag bei unserer Wanderung durch die Döberitzer Heide, westlich von Spandau . Wahrscheinlich lösen die nächsten beiden Fotos bei euch ähnlich merkwürdige Gefühle aus, wie bei uns.

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Den Bericht über einen Herbst, wie er bunter nicht sein kann, möchte ich aber nun schließen mit ein paar einfach nur schönen Berlinfotos (die letzten beiden von unserm Treppenhaus  bzw. Balkon):

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Refugio eröffnet!

Mit einem tollen Fest haben wir gestern das Sharehaus Refugio der Berliner Stadtmission in Neukölln eingeweiht.

Hausteam und Bewohner unter Leitung von Sven Lager hatten sich in den letzten zwei Wochen nochmal so richtig ins Zeug gelegt. Die Treppenhäuser wurden entrümpelt, das Refugio-Logo angebracht und auch das in Eigenleistung gezimmerte Refugio-Café ist fertig geworden.

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Da ging es schon eine Stunde vor dem Gottesdienst hoch her. Mit gestifteten Kuchen und kunstvoll gefertigten Heißgetränken (Andy Romeike, unser Café-Chef, ist immerhin gelernter Barrista).

Andy Romeike (2.v.r.) mit seinem Team

Andy Romeike (2.v.r.) mit seinem Team

Zusammen mit dem Kreuzbergprojekt einer jungen FEG-Gemeindegründung, die seit einem Jahr das Haus nutzt und mit dem wir jetzt kooperieren, wurde der Gottesdienst eine sehr lebendige Angelegenheit. Da reichten die Plätze im Kirchensaal bei weitem nicht. Und parallel dazu war das Café die ganze Zeit auch noch ausgelastet.

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Meine schöne Aufgabe war die Eröffnungspredigt, die ich Euch hier vollständig einfüge, verknüpft mit Fotos vom Eröffnungstag. So bekommt Ihr nicht nur einen Eindruck von dem tollen Fest, sondern auch von der „Denke“, die uns dabei bewegt.

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Predigt im Einweihungsgottesdienst des Sharehaus Refugio 20.9.2015

Liebe Refugioeröffnungsgemeinde,

d.h. liebe Bewohner – einheimische und geflüchtete. Liebe Mitarbeitende – berufliche und ehrenamtliche. Liebe Stadtmissionsleute und Kreuzbergprojektler. Liebe Freunde, Unterstützer und Nachbarn, Neuköllner, Kreuzberger und sonstige Berliner.

Allein diese Aufzählung zeigt schon, dass wir heute ein ganz besonderes Projekt feierlich eröffnen. Ein Projekt, das für alle Beteiligten etwas ganz Neues ist. Ein Projekt in dem wir versuchen, auf ganz viele spannende Herausforderungen unserer Zeit zu antworten. Nicht als Besserwisser, sondern als Menschen, die etwas wagen, sich Ziele setzen und gemeinsam Wege finden wollen. Die meisten von uns im Vertrauen auf den lebendigen Gott. Denn der ist brennend daran interessiert, dass es Versöhnung gibt und nicht Hass, Frieden und nicht Krieg, Vertrauen und nicht Misstrauen, Gastfreundschaft und nicht Vertreibung, Heilung und nicht Verletzung. Wie sehr er daran interessiert ist, hat er in Jesus von Nazareth gezeigt, der mit seinem Leben genau dafür eingetreten ist und seinen Kopf hingehalten hat.

Als Sven Lager im vorigen Jahr in Kreuzberg das erste Sharehaus bei der Berliner Stadtmission als Versuchsballon startete, gab er ihm irgendwann den Untertitel: „Werkstatt für himmlische Gesellschaft.“ Und diesen Titel wollen wir uns jetzt im Refugio erst recht auf die Fahnen schreiben. „Werkstatt für himmlische Gesellschaft.“ Aber was soll man sich darunter vorstellen? Wie sich die Bibel solch eine himmlische Gesellschaft vorstellt, können wir im letzten Buch der Bibel lesen. Und vielleicht schon beim Zuhören oder Mitlesen ahnen, wieviel das mit unserem Leben hier und jetzt zu tun hat.

Offenbarung 21
1 Danach sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde. Der frühere Himmel und die frühere Erde waren vergangen; auch das Meer gab es nicht mehr. 2 Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, schön wie eine Braut, die sich für ihren Bräutigam geschmückt hat. 3 Und vom Thron her hörte ich eine mächtige Stimme rufen: »Seht, die Wohnung Gottes ist jetzt bei den Menschen! Gott wird in ihrer Mitte wohnen; sie werden sein Volk sein – ein Volk aus vielen Völkern, und er selbst, ihr Gott, wird immer bei ihnen sein. 4 Er wird alle ihre Tränen abwischen. Es wird keinen Tod mehr geben, kein Leid und keine Schmerzen, und es werden keine Angstschreie mehr zu hören sein. Denn was früher war, ist vergangen.« (…)

22 Einen Tempel sah ich nicht in der Stadt. Der Herr selbst, der allmächtige Gott, ist ihr Tempel, er und das Lamm. 23 Auch sind weder Sonne noch Mond nötig, um der Stadt Licht zu geben. Sie wird von der Herrlichkeit Gottes erhellt; das Licht, das ihr leuchtet, ist das Lamm. 24 Die Völker werden in dem Licht leben, das von der Stadt ausgeht, und von überall auf der Erde werden die Könige kommen und ihren Reichtum in die Stadt bringen. 25 Die Tore der Stadt werden den ganzen Tag geöffnet sein; mehr noch: Weil es dort keine Nacht gibt, werden sie überhaupt nie geschlossen. 26 Die herrlichsten Schätze und Kostbarkeiten der Völker werden in die Stadt gebracht. 27 Aber etwas Unreines wird dort niemals Einlass finden.     (Neue Genfer Übersetzung)

 Eine Werkstatt für himmlische Gesellschaft sollte ja wohl wahrscheinlich Dinge entwickeln, die jetzt schon etwas vom Himmel sichtbar machen. Deshalb will ich kurz vier „Produkte“ der Werkstatt beschreiben, die sich aus der Beschreibung der himmlischen Gesellschaft in der Johannesoffenbarung ergeben.

Sonnenuntergang auf dem Refugiodach

Sonnenuntergang auf dem Refugiodach

1. Das erste verblüffende „Produkt“ ist, dass Gott offenbar überhaupt kein Interesse hat an einem Himmel, der mit der Erde nichts mehr zu tun hat, einen Himmel, der nur als ewige Belohnung auf die Gerechten wartet. Da will Gott überhaupt nicht wohnen. Sondern er zieht um, höchst persönlich: Vom Himmel auf die Erde. »Seht, die Wohnung Gottes ist jetzt bei den Menschen! Gott wird in ihrer Mitte wohnen; sie werden sein Volk sein. «

Genau durch diesen Umzug Gottes wird die Erde rundum erneuert. Am Ende der Zeiten. Blog 35-9Und zwar endgültig. Aber damit bringt er ja nur zu Ende, was er längst schon angefangen hat. Einer der Berichte über Jesus, das Johannesevangelium, sagt: In Jesus ist Gottes Wort schon in die Welt gekommen und „wohnte unter uns.“

Wir merken: Himmlische Gesellschaft hat eine Menge damit zu tun, wo Gott wohnt. Und deshalb wünschen wir uns von Herzen, dass Gott auch hier im Refugio wohnt. Nein, eigentlich haben wir es in den zurückliegenden Wochen schon erleben dürfen, dass er das längst tut.

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Aber wer wohnt da denn noch?
Damit kommen wir zum

  1. „Produkt“. Wir lesen V 3 und 4: „Sie werden sein Volk sein – ein Volk aus vielen Völkern, und er selbst, ihr Gott, wird immer bei ihnen sein. 4 Er wird alle ihre Tränen abwischen. Es wird keinen Tod mehr geben, kein Leid und keine Schmerzen, und es werden keine Angstschreie mehr zu hören sein.“
Zimmernachbarn im Refugio

Zimmernachbarn im Refugio

Ein Volk aus vielen Völkern. Auch in diesem Sinne wollen und dürfen wir uns „Werkstatt für himmlische Gesellschaft“ nennen. Was diese Gesellschaft aber vor allen anderen auszeichnet, ist folgendes: Hier werden Traumata geheilt. Geschichten angehört, egal wie erschütternd sie sind. Familientragödien und Fluchtgeschichten. Geschichten von Chancenlosigkeit und Verzweiflung. Von Verfolgung und Gewalt. Da dürfen Tränen fließen und werden dann behutsam abgewischt. Und die Angst weicht – langsam aber sicher.

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Sven Lager (rechts) stellt einige Refugiobewohner vor

3. Produkt oder Merkmal der himmlischen Gesellschaft

„Einen Tempel sah ich nicht in der Stadt. Der Herr selbst, der allmächtige Gott, ist ihr Tempel, er und das Lamm.“ (V. 22):

Das ist eine hoch interessante Aussage. Der Tempel ist das Symbol für Religionen. Bei dem Stichwort denken viele direkt an Religionskriege. Leider zu Recht. Religionen können grausamen Unfrieden säen. Wenn jede darauf beharrt, allein recht zu haben.

Nach der Vorstellung der Bibel werden am Ende die Religionen abgeschafft. Und an die Stelle tritt eine unmittelbare Beziehung zum lebendigen Gott. Wir Christen können dabei nicht anders als an Jesus denken, dass Lamm Gottes, der mit seinem Leben und Sterben die grenzenlose Hingabe Gottes gezeigt hat. Jedenfalls wird dann keine Religion mehr nötig sein. – Wenn zum Refugio auch eine Art Stadtkloster gehört und Gottesdienste usw., dann nicht etwa, weil wir die christliche Religion anderen überstülpen wollten, sondern weil wir Raum schaffen wollen, in dem Menschen jetzt schon dem lebendigen Gott selbst begegnen können.

(4.) Ein letzter Punkt, was wir aus der Offenbarung als Werkstatt für himmlische Gesellschaft lernen können:

24 Die Völker werden in dem Licht leben, das von der Stadt ausgeht, und von überall auf der Erde werden die Könige kommen und ihren Reichtum in die Stadt bringen. 26 Die herrlichsten Schätze und Kostbarkeiten der Völker werden in die Stadt gebracht. 27 Aber etwas Unreines wird dort niemals Einlass finden.    

Alle Völker haben etwas einzubringen. Da wird auch nicht mehr in Hilfsbedürftige und Helfer eingeteilt, sondern jeder hat etwas beizusteuern in die himmlische Gesellschaft. Aber! Nicht alles hat dort Platz. Was die Gemeinschaft untereinander und mit Gott stört, bekommt da keinen Raum zur Entfaltung mehr: Das gehört da nicht hin. Darf nichts mehr kaputt machen.

Sharehaus Refugio, eine Werkstatt für himmlische Gesellschaft. Noch vieles muss sich da entwickeln. Aber hoffentlich wird genau das geschehen unter Gottes Segen.

Amen

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Blog 35-14Im Anschluss an den Gottesdienst gab es arabisches Essen aus der Küche im vierten Stock – und dann interkulturelle live-Musik auf verschiedenen „Bühnen“, jeweils heftig umjubelt: z.B. die Singer-Songwriterin vom Kreuzbergprojekt, die auch den Gottesdienst mitgestaltet hatte.

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Und ganz besondere Begeisterung kam auf, als Jean Samara, unser erster Syrienflüchtling im Sharehaus 1 – ein begnadeter Musiker -, mit einer spontan zusammengestellten Musikgruppe syrische Lieder sang – und andere junge Syrer dazu klatschten, mitsangen, tanzten und übers ganze Gesicht strahlten. Was muss das für ein Gefühl sein, fern der zerstörten Heimat und nach unsäglicher Flucht so angekommen zu sein!Blog 35-12

Sharehaus Refugio. Ein bisher in Deutschland einzigartiges Projekt, wie RTL in seinem fast 6-minütigen Fernsehbeitrag vorige Woche feststellte.

Und für mich nach fast einjähriger intensiver Planungsarbeit ein echtes Erfolgserlebnis. Erst recht im Vergleich zu dem gespenstischen Ambiente, das hier noch vor drei Monaten in dem zum großen Teil leerstehenden düsteren Gebäude herrschte. Jetzt brummt das Haus vor Leben! Eine Werkstatt für himmlische Gesellschaft eben.

„Helles Deutschland“

Was für eine schlichte und gleichzeitig geniale Formulierung unseres Bundespräsidenten: „Dunkeldeutschland“ und „Helles Deutschland“. Manchmal können Vereinfachungen auch ungemein hilfreich sein und aus dem politisch-ausgewogen-lavierenden Gequatsche herausführen.

Und wie gut ist es, dass in den letzten Tagen die Medien endlich auch auf den Trichter gekommen sind, nicht nur Horrornachrichten zu bringen, sondern eben auch helles Deutschland zu zeigen: Vorhin in den ZDF, rbb und ARD-Nachrichtensendungen die Bilder vom – ja fast kann man sagen: Flüchtlingsbegrüßungsfest am Münchener Hauptbahnhof.

Wie wichtig sind solche Bilder, die ermutigen, die Lust machen, die ein positives Gefühl vermitteln: Ja, wir sind dazu in der Lage, diese ohne Zweifel riesengroße Aufgabe zu stemmen! Fast hat man den Eindruck, diese Herausforderung  tut unserem Land richtig gut: Wann hatten wir zum letzten Mal ein so großes gemeinsames Thema? Fußball-WM (das „Sommermärchen“ und der letztjährige Titel) war ja schon ganz hilfreich. Aber da konnte man nur zugucken und feiern. Aber jetzt kann man gemeinsam und individuell für eine wirklich anspruchsvolle Geschichte konkret etwas tun. Und plötzlich entwickelt sich eine Solidarität, die man kaum für möglich gehalten hätte. Plötzlich ist Mitmenschlichkeit nicht mehr nur was für unverbesserliche Gutmenschen, sondern entwickelt sich zu einem „Volkssport“. Ist das der schon lange ersehnte „Ruck“ durch Deutschland?

Auf der Kontakte-Liste unserer Flüchtlings-Traglufthalle (Notunterkunft) stehen inzwischen über eintausend Namen von Menschen, die bereit sind, ehrenamtlich anzupacken. Die Anfragen von Privatpersonen, die Flüchtlinge auch bei sich zu Hause unterbringen wollen, steigen. (Wobei das ziemlich schwierig zu organisieren ist. Wir arbeiten bei der Stadtmission und auch anderswo an Beratungsangeboten, die solche Hilfsbereitschaft flankieren, damit sie nicht durch Anfängerfehler und schlechte Erfahrungen zum Bumerang wird.) Und die Menschen, die helfen wollen, fragen erst mal nicht danach, ob Polen oder Spanien auch Flüchtlinge aufnimmt. Wenn Europa pennt: wir sind wach! scheint das Gefühl zu sein.

Also, die Flüchlingsaufgabe tut unserem Land gut, nicht nur weil die Industrie- und Handelskammer sich auf zusätzliche Fachkräfte freut.

Allerdings: Die Aufgabe ist riesig und auch bei den weit nach oben korrigierten Zahlen überhaupt noch nicht einzuschätzen. Und: die Hilfsbereitsschaft muss verstetigt werden (und nicht nur ein „Hilfe-Hype“ sein). Aber genau deshalb brauchen wir kein Gejammer, sondern Konzepte, Entschlossenheit und Kreativität.

Das versuchen wir bei der Stadtmission an vielen Stellen. Und unsere inzwischen im Haus Leo (Flüchtlingsheim), in der Traglufthalle und im Refugio gesammelten Erfahrungen werden von vielen abgefragt. So arbeiten wir nicht nur an Beratungsangeboten für Privatpersonen und Gemeinden, sondern auch für Diakonievertreter, Politiker, Behörden usw.

Und die Medien interessieren sich wie gesagt inzwischen sehr für positive Beispiele.

20150718_143005Noch vor der offiziellen Eröffnung des Refugios am 20. September hat allein der Beginn der Wohngemeinschaft von Flüchtlingen und Einheimischen dort eine für uns vollkommen überraschende Menge von Berichterstattungen angelockt, insgesamt schon 14 mal in Presse, Funk, Internet und Fernsehen bis hin zu ARD und ZDF. Den aktuellen Pressespiegel mit vielen Links findet ihr im Blog des Refugio: https://refugioberlin.wordpress.com/pressepress/

Es lohnt sich unbedingt dort mal hineinzuschauen.

Derweil erfordert die Alltagsarbeit (jenseits der Medienbesuche) viel Aufmerksamkeit. Das fängt bei Themen an, die man aus jeder Studenten-WG kennt:

IMG_20150830_134905Wie hält man eine Gemeinschaftsküche in Ordnung mit somalischen, syrischen, afghanischen und deutschen Köchen plus der siebenköpfigen Romafamilie.

Wie organisiert man das Putzen und, dass die Fahrräder nicht im Treppenhaus stehen usw.

Aber auch: Wie konsequent muss man Deutsch miteinander sprechen, an welcher Stelle darf man sich mit Englisch aushelfen? Wie können die Unsicheren ermutigt werden, sich einzubringen? Wie kommen Gaben und Fähigkeiten zum Vorschein? Welche Verbindlichkeit haben Gemeinschaftsaktionen (wie Café-Möbel bauen oder Tagesausflüge machen)? Wie gelingt es, die auch im Haus wohnenden Studenten zu interessieren (und das in den Semesterferien)? Inzwischen gibt es verschiedene Teams, die sich organisieren: Zum Joggen, zum Schachspielen, zum Möbelbauen usw.. Denn neben Sprache lernen sind sinnvolle Aktivitäten und wachsende Freundschaften so wichtig für die (gegenseitige) Integration.

Ganz wichtig aber ist: Gemeinsam kochen und Essen (möglichst auf dem Dachgarten). Und Raum zu bekommen, um die eigenen Geschichten zu erzählen. Immer wieder stoße ich an den unterschiedlichsten Stellen meiner Arbeit darauf, wie entscheidend es ist, dass Menschen ihre Geschichten erzählen können und ihnen zugehört wird: Beim Obdachlosen-Gesprächsfrühstück wie bei der Fortbildung für Mitarbeitende in der Straffälligen Hilfe, beim Kollegen, der aus dem Urlaub zurück kommt (oder auch bei mir selbst in der Situation) wie beim Glaubensgespräch auf dem Refugio-Dachgarten:
In der wöchentlichen „Lectio divina“, einer Mischung aus schweigender Bibelmeditation und Austausch ging es um Epheser 3,16-19, wo die Rede ist von Gottes Kraft in uns und dem Reichtum seiner Liebe, die wir mit unserem Verstand nicht erfassen können. In der zweiten Austauschrunde erzählt einer der syrischen Flüchtlinge (von Hause aus kein Christ): „Die Kraft Gottes hab ich gespürt. Ich bin zwei Stunden im Mittelmeer geschwommen. Und um mich herum war kein Leben. Aber ich wusste, ich werde leben!“ (Das Boot war gekentert, er hatte sich mit einem frühzeitigen, beherzten Sprung ins Wasser gerettet, aber die meisten anderen waren ertrunken, als das Boot umschlug.) So kam er ins helle Deutschland. Und will hier seinen Teil zu dieser Helligkeit beitragen.

Eine letzte Bemerkung: Zum „hellen Deutschland“ gehören sicher auch die 12 jungen Freiwilligen des letzten Jahrgangs, die sich auf folgende, höchst kreative Weise von ihrem FSJ verabschiedet und die Glastüren zur Geschäftsstelle umdekoriert haben .IMG_20150828_083723

Heute sind die neuen gestartet, wieder ein rundes Dutzend junge Erwachsene aus ganz Deutschland (auch aus der Nähe von Köln). Mit dabei auch die Tochter eines alten Freundes aus meiner Ägidienberger Vikariatszeit. Den haben wir voriges Jahr hier in Berlin wiedergetroffen und danach in Frankfurt/Oder besucht. Aber das wäre jetzt wirklich eine andere Geschichte.

 

 

Berliner Hochsommer

Ich mag den Hochsommer in Berlin. Ehrlich. Viele andere stöhnen über die Hitze. Natürlich ist es heiß. Aber Dank des leichten Ostwindes nicht schwül (nur ganz selten) – und nachts kühlt es meistens ganz schön ab. Wenn man vorher in der Kölner Bucht gelebt hat, ist das hier sehr viel angenehmer.

Angenehm ist auch, dass die S-Bahnen ziemlich leer sind, jedenfalls morgens auf dem Weg zur Arbeit. Keine Schüler – und auch sonst scheint halb Berlin ausgeflogen zu sein. Die zusätzlichen „Touris“ fallen kaum auf. Höchstens, wenn sie in einer orientierungslosen Gruppe mit riesen Rücksäcken und Koffern im Bahnhof Rolltreppen und Bahnsteige blockieren – und dabei nicht im Entferntesten merken, wie sehr sie im Weg sind. Da muss man manchmal richtig die Ellenbogen ausfahren. Und man bekommt am Abend eines heißen Tages in der S-Bahn  Sauna gratis, was auch nicht angenehm ist. Blog Nr 33 - 101Aber dann gibt es andere Erfreulichkeiten, wie dieser Cellist im U-Bahnhof Schönleinstraße (Neukölln), dessen einfühlsame Musik mir dann auch mal 2 Euro wert war.

Aber was macht man im sommerlichen Berlin – zum Beispiel an einem Spätnachmittag oder freien Wochenende (wenn man kein Tagestourist ist). Wir haben (nach unserem Bergurlaub in Tirol) unsere Entdeckungsreise an solche Orte fortgesetzt. Und natürlich möchte ich Euch wieder ein bisschen davon miterleben lassen.

Zwei Adressen für das hippe Berlin sind die Eastside-Galerie – längst berühmtester Mauerrest und natürlich auch ein Touristen-Tipp. In Friedrichshain gelegen, 1,5 km am östlichen Spreeufer entlang zwischen Ostbahnhof und Oberbaumbrücke nahe der O2-Arena: Nach der Wende haben 118 Künstler das Mauerstück von der Straßenseite aus bemalt, viele der Kunstwerke drehen sich um das Thema Frieden und Verständigung, bzw. die Überwindung von Mauern.

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Inzwischen ist aber nicht nur die Spreeseite mit mehr oder weniger schönen Graffitis verziert, sondern auch die Galerie-Seite ist nicht von zusätzlichen „Eintragungen“ verschont geblieben. Wir beobachten etliche Touristen, die meinen, sich mit Edding auf jedem einzelen Gemälde verewigen zu müssen.

Überhaupt ist es mindestens so interessant, die Kombination aus 25jährigem Kunstwerk und aktuellen Menschen auf sich wirken zu lassen. Hier ein paar Beispiele (klickt die Bilder einzeln an und achtet auf Details!).

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Bald ist man bei der architektonisch hübschen Oberbaumbrücke (1894-96 erbaut und zu DDR-Zeiten ein Grenzübergang) und auf der anderen Seite in Kreuzberg. Aber so richtig!

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Wir schlendern weiter, bis wir zum Görlitzer Park kommen, in Berlin seit Jahren berühmt-berüchtigt für seinen ergiebigen Drogenmarkt. Wohl deshalb macht auch der Baedecker einen großen Bogen um diesen Park, der aber ein echtes Erlebnis ist – jedenfalls an einem Sommernachmittag. Direkt am Parkeingang bekommt man IMG_6918den Eindruck, irgendwo in Schwarzafrika gelandet zu sein. Denn plötzlich sieht man nur noch Grüppchen dunkelhäufiger Männer beisammen stehen. Ein bisschen merkwürdig wirkt das schon. Aber wenn man mal riechen möchte, wie „Gras“ riecht (n‘ Joint), ist man hier an der richtigen Stelle, wie übrigens auch in der Hasenheide oder der Sonnenallee in Neukölln.

Wenn man im „Görli“ weitergeht durch diesen landschaftsarchitektonisch hochinteressanten, aber total verlodderten Park, wird es wieder „richtig Berlin“: Diese Mischung! Da grillt eine türkische oder arabische Familie, dort breitet sich ein Roma-Clan aus. Dazwischen überall – überwiegend junge – Einheimische, sagen wir mal mindestens Mitteleuropäer. Und dann auch immer wieder Gruppen, die in sich kunterbunt sind. Unzählige Fahrräder liegen herum. Und alles Volk ist total entspannt und gut drauf.

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Mitten im Park: Ein Kinderbauernhof mit Hühnern, Schweinen, einem Misthaufen! Natürlich von einer freien Initiative organisiert.

Jeden Morgen macht die neugegründete Laufgruppe vom Sharehaus Refugio, zu der auch unser Sohn Lukas gehört, seine Runden durch den Görlitzer Park. Die ganzen Dealer seien völlig ungefährlich – falls man nicht Drogensüchtig sei, bekomme ich erzählt. –

Noch innerhalb der Stadtgrenzen Berlins, aber eigentlich nicht mehr richtig Berlin, sondern eine Welt-für-sich durchstreifen wir am Samstag: Köpenik und Rahnsdorf ganz weit im Südosten am Müggelsee. In der Nähe der Rahnsdorfer Dorfkirche (und hier ist Dorf auch Dorf) leihen wir uns ein Zweier-Kajak und paddeln auf der Müggelspree in Richtung Neu-Venedig. Zu dieser idyllischen Siedlung, die mit ihren vielen engen Kanälen ihrem Namen alle Ehre macht, muss ich nicht viel erzählen. (Die Bilder sprechen für sich.) Höchstens dass der Boots- und Schiffverkehr einschließlich des dazugehörenden Wellengangs auf der Müggelspree unmittelbar an das Treiben auf dem Canale Grande in der Serenissima erinnert.

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Wieder an Altrahnsdorf vorbei paddeln wir noch zum kleinen Müggelsee: Nicht nur ausgesprochen wasserfahrzeughaltig, sondern auch mit einer tollen, amphietheater-artigen Badestelle (kostenlos). Im echten Venedig sollte man das Baden ja eher sein lassen.

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Dämlicherweise haben wir unsere Badesachen im Auto gelassen. Aber es gibt ja noch den Tegeler See ganz bei uns in der Nähe, in dessen Fluten wir uns gegen Abend noch stürzen werden. Vorher machen wir aber noch einen Abstecher in die Altstadt von Köpenick mit Rathaus, Schloss und: Wasser.

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Das ist dann doch auch wieder echt Berliner Hochsommer, wer sich hier unreglementiert IMG_6958gleichzeitig im Wasser (Dahme-Spree-Mündung) bewegt: Ausflugsdampfer und Schwimmer und sehr unterschiedliche Boote. IMG_6962

Was ist Erholung?, haben wir auf der Rückfahrt aus unserem Urlaub diskutiert: Endlich mal wieder ausgeschlafen sein? Klar, auch ganz wichtig. Aber welche Bedeutung hat der angeblich so wichtige Abstand vom Alltag? Ich habe irgendwo ein paar Gedanken dazu gelesen, die wir weiter denken:

Den Kopf frei bekommen, keine E-Mails lesen, beim Wandern oder Schwimmen mal nichts denken, die täglichen Herausforderungen der Arbeit mal vergessen – und dann auch wieder aus ganz anderer Perspektive anschauen. Ist vieles wirklich so wichtig, wie ich es oft denke? Mache ich mir im „normalen Leben“ einen Kopf um Dinge, die man auch ganz gelassen nehmen könnte? Sind meine Schwerpunkte richtig gesetzt? Usw.

Wie „erholt“ man ist, zeigt sich dann nicht nur an schönen Urlaubserlebnissen, die sich anschließend erzählen lassen. Vielleicht zeigt es sich noch mehr daran, ob und wie lange dieser andere Blick auf den Alltag – im Alltag anhält. „Der Alltag hat mich wieder“ ist womöglich eine viel fatalere Aussage, als es auf den ersten Blick erscheint. Aber habe ich Einfluss darauf, ob und wie lange Erholung im zweiten Sinne anhält? Kann oder muss ich dazu andere Denkmuster für den Alltag regelrecht einüben? Oder ist das einfach ein Geschenk?

Der Alltag hatte Christiane insofern ganz schnell wieder, als in der Notunterkunft für Flüchtlinge, den Traglufthallen am Poststadion schon wieder „Land unter“ war. Vorige Woche hatte das Landesamt mal an einem Tag ca. 1600 Flüchtlinge in der Erstaufnahme. Aber leider hat die Politik im vergangenen Jahr nicht etwa für grundlegende Verbesserungen zum Beispiel durch Einstellung ausreichend vieler neuer Mitarbeiter in den Behörden gesorgt. Und so sind schon nach einem kurzen Verschnaufen im Frühsommer die Verhältnisse jetzt wieder wie im vorigen Herbst oder schlimmer. Nur dass diesmal wirklich keiner sagen kann: „Das kommt aber jetzt unerwartet.“ Statt dessen hat man kostbare Monate mit einem lächerlichen Korruptionsskandälchen vertan, das nicht wirklich eins war.

So werden alle freien Träger (natürlich auch wir) mal wieder angebettelt, irgendwie zu helfen. Mittwoch und Donnerstag hat Christiane (und andere vom Team) bis halb zwei in der Nacht gerödelt, um dem neuen Ansturm Herr zu werden. Am Freitagabend um kurz vor 19 Uhr rief eine verzweifelte Mitarbeiterin vom LaGeSo (Landesamt für Gesundheit und Soziales) bei Matthias Hamann, dem Chef unserer Traglufthallen, an, ob wir – zusätzlich zur überbelegten Halle – irgendwie noch 100 Flüchtlinge unterbringen könnten. Innerhalb von vier Stunden hat dann unser sensationelles Team organisiert, dass ein Teil der Winternotübernachtung geöffnet wird, und 60 Feldbetten zum Moscheeverein transportiert, mit dem wir (seit dem Ramadan) eng kooperieren. Um Mitternacht hatten alle Hundert ein Bett und was zu essen!

Und jetzt überlegen wir in der Stadtmission, wie wir die Hilfsbereitschaft vieler Menschen so nutzen und vernetzen können, dass Privathaushalte für ein zwei Nächte obdachlose Flüchtlinge aufnehmen können. Aber damit sind wir schon mitten im Thema meines nächsten Blogs (der hoffentlich nicht wieder vier Wochen auf sich warten lässt).

Allen Blog-Lesern wünsche ich jetzt erst mal noch einen schönen Hochsommer, ob daheim oder unterwegs. Erholt Euch gut!

Lebensräume

„Der Vogel hat ein Haus gefunden und die Schwalbe ein Nest für ihre Jungen“, heißt es im Psalm 86. Ein Bild für Menschen, die einen Ort gefunden haben, wo sie sein dürfen, wo sie leben können, zu Hause sind.

Aber das ist alles andere als selbstverständlich. Zumal ein solcher Ort ja für jeden einzelnen anders aussieht, bzw. aussehen muss, um sich zu Hause fühlen zu können. In einer riesigen vollen Stadt wie Berlin ist das genauso eine offene Frage wie in der Weite sich entleerender Landstriche etwa Brandenburgs. Nochmal zugespitzt: In Meißen und Freital treffen Menschen aufeinander, denen genau das fehlt: Die einen, weil ihre Heimat irgendwo auf der Welt ein einziges Desaster geworden ist, aus dem man nur fliehen kann, wenn man (über)leben will. Die anderen, weil ihnen die beschauliche Heimat mit der Illusion, alles nach dem eigenen Geschmack kontrollieren zu können, entgleitet. Immer geht ja auch um die Frage: Wo darf ich dazugehören?

Im Leitbild der Berliner Stadtmission heißt es: „Wir geben Menschen Heimat und leben Gemeinschaft.
Wir wollen, dass Menschen sich bei uns zu Hause fühlen und Heimat finden.
Wir freuen uns, wenn Menschen neue Hoffnung schöpfen.
Wir feiern gemeinsam und schaffen Räume, in denen wir Gott begegnen können.“

Von zwei unterschiedlichen Lebensräumen möchte ich heute berichten und dann noch paar Eindrücke von unserem „Fest für die Stadt – das Beste“ am vorletzten Sonntag zeigen.

Erster Lebensraum:Blog Nr 32 - 01

Dorfkirchentag in Wiesenau, südlich von Frankfurt/Oder. Ich bin als Festredner eingeladen worden für eine kurze Predigt im Gottesdienst und anschließend einen Vortrag über die Berliner Stadtmission. Kirche und Kirchhof machen dem Namen „Dorfkirchentag“ alle Ehre. Ein kleiner, wirklich guter Posaunenchor rahmt das ganze musikalisch mit Stücken aus allen Musikepochen. Versammelt haben sich etwa 100 Gemeindeglieder, die meisten davon Ü 60, aber auch einige der mittleren Generation. Nur bei den Bläsern sind auch Jugendliche.

Blog Nr 32 - 02Aber alles vermittelt den Eindruck: Hier ist die Welt noch in Ordnung! Und in der Tat, als Christiane und ich im Anschluss an die Veranstaltung noch die paar Kilometer zum Oderstrand fahren: Solche Stille, solchen Frieden, solch paradiesische Natur mit Feuchtbiotopen und riesigen Eichen – das hat schon was. Da kann man mit der Seele baumeln. Und wieder zurück ins Berliner Getümmel zu fahren, hat nur begrenzten Reiz.

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Allerdings zeigen die Gespräche beim Dorfkirchentag die Schattenseiten: Nicht nur dass ich während meines Vortrags von einem älteren Herrn scharf kritisiert werde, als ich den Namen „Sharehaus“ benutze. Schließlich hätten wir eine deutsche Sprache! Ein anderer erzählt uns Dorfgeschichten von vor 100 Jahren. Den jüngeren Gesprächspartnern, die gerne etwas verändern möchten oder Mitverantwortung für das geplante Flüchtlingsheim in der Nachbarstadt (Eisenhüttenstadt) übernehmen wollen, merkt man z.T. deutlich ihre Frustration über die scheuklappige Rückwärtsgewandtheit an. Und wir fragen uns auf dem Rückweg, ob nicht die Landflucht auch genau darin eine wichtige Ursache hat, dass man das nur begrenzt ertragen kann, wenn alles so bleiben muss, wie es mal war.

Zweiter Lebensraum:

Sharehaus Refugio, unser neues Projekt in Neukölln: WP_20140510_09_10_03_Pro

Nach einem halben Jahr Konzeptentwicklung und  intensiver Planung, Wirtschaftlichkeitsprüfung und aktualisiertem Brandschutz, Neueinstellungen und Nutzungsverträgen in der Geschäftsstelle (unter meiner Koordination) – und „Dornröschen-Schlaf“ in der Lenaustraße ist jetzt mit Projektbeginn zum 1. Juli 2015 das traditionsreiche Haus zu neuem Leben erwacht: Ein Lebensraum mit großer Vitalität und Integrationskraft, Lebensfreude und Dynamik.

„Sharehaus Refugio“, d.h. ein Haus, in dem Menschen Zuflucht finden und vielfältige Gaben miteinander teilen. (Ich berichtete schon kurz von den Vorbereitungen.) Sven Lager, der schon im vorigen Jahr das Sharehaus I. als „Werkstatt für himmlische Gesellschaft“ aufgebaut hat (ich habe auch darüber berichtet), bringt hier mit einem engagierten Team diesen Gedanken auf eine neue Ebene.

Viele junge Menschen ziehen ein, Geflüchtete (mit geklärtem Aufenthalts-Status und unterschiedlichem religiösem Hintergrund) und einheimische Christen, die gemeinschaftliches Leben gestalten wollen. Für die Geflüchteten (zur Zeit aus 6 verschiedenen Ländern) wird es darüber hinaus in Kürze Sprachkurse und weitere Eingliederungsmaßnahmen geben. Bei schönem Wetter wird auf dem Dachgarten gemeinsam zu Abend gegessen. Irgendwer kocht immer (egal ob arabisch oder afrikanisch oder südosteuropäisch oder deutsch) und zwar immer für andere mit, und dann wird geteilt.

sharehaus2_SvenLager_17.06.2015.jpgDachgarten_SvenLager_17062015_01_617b34ab8a Sharehaus_SvenLager_17062015_01_054e676caa Blog Nr 32 - 49

Das Frühere Foyer wird zu einem „Kiez-Café“ mit hochwertigen Kaffees und vielfältigen Begegnungsmöglichkeiten ausgebaut.Hierfür ist Andy Romeike in Marburg zum Theologen und in Berlin zum Barista („Kaffe-Zauberer“) ausgebildet eingestellt. Im Café können dann auch die Geflüchteten zu Gastgebern werden.

WP_20140510_09_11_42_ProDer Saal wird für Gottesdienste und unterschiedlichste Veranstaltungen genutzt, die zusammen mit dem Café die Brücke zum Stadtteil bilden und einen Teil der Finanzierung einbringen sollen.

In Räumen im 5. Stock, auf dem Dachgarten und teilweise im großen Saal wird unser neues „Stadtkloster“ beheimatet sein: ein Ort zum Beten, Bibellesen, Stille finden, geistliche Gespräche führen – und für Einzelpersonen die Möglichkeit für einige Tage mitzuleben. Die Gottesdienste und weitere geistliche Angebote übernimmt das „Kreuzberg-Projekt“, eine junge Gemeinde, die seit vorigem Herbst zunächst als Mieter in der Lenaustraße war, aber aufgrund der guten Erfahrungen jetzt zu einem festen Kooparationspartner wird.

Weitere kreative Projekte sind in Planung.

Dafür haben wir beruflich und ehrenamtlich Mitarbeitende gefunden, die ein begeistertes und starkes Kernteam bilden. Diese ca. 10 überwiegend jüngeren Leute wollen gemeinsam (geistlich) leben und bringen genau die Gaben mit, die für diese Projektentwicklung nötig sind. Einige von ihnen wohnen mit im Haus. Dazu gehört auch unser ältester Sohn Lukas, der ansonsten hier in Berlin bei einem Startup arbeitet.

Vieles ist zwar noch unfertig. Aber trotzdem hat die Abendschau vom RBB vorigen Mittwoch schon über das Sharehaus Refugio berichtet. Hier findet ihr den Fernsehbeitrag (solange er vom RBB bereitgehalten wird):WP_20150713_12_54_36_Pro

http://www.rbb-online.de/rbbaktuell/archiv/20150709_2145

Wir hoffen, dass sich diese kombinierte Arbeit in zwei Jahren selbst finanzieren kann. Aber bis dahin benötigen wir nicht nur das Engegement der Leute vor Ort, sondern natürlich auch Spenden von außerhalb. Also falls Ihr für dieses Modellprojekt etwas übrig habt… (http://www.berliner-stadtmission.de/wie-sie-helfen/spenden/spenden – bitte mit Stichwort „Refugio“).

So jetzt noch ein paar Eindrücke von unserem Fest für die Stadt  – am bisher heißesten Tag des Jahres:

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Die Stände der Stadtmissionsgemeinden – anschaulich und einladend – und im Hintergrund der blaue Trinkwasserstand der Berliner Wasserwerke (einer unserer Partner): An diesem Tag absolut überlebensnotwendig!

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Nicht David und Goliath, sondern Christian Flöter aus Tegel (gefühlte 2,40 groß), der mein Stadtmissionslied für seine Drehorgel arrangiert hat. Da darf ich natürlich auch mal drehen, und wir singen gemeinsam, wozu die Stabmarionette tanzt.WP_20150705_14_45_37_Pro   Blog Nr 32 - 47

Und noch mehr Musik: Die Rock’n Roll Preachers heizen richtig ein. Und Nasser Kilada (mit so ner Art türkisch-Rock) bringt die Menschen in Bewegung.

Mit dem Blick auf eine sehr lustige Hochzeitslimosine (Trabi-Umbau), an dem wir im Wedding vorbei fuhren (hoffentlich haben die Insassen mit Ihrer Hochzeit auch den Lebensraum gefunden, der für sie genau richtig ist), verabschiede ich mich in den Sommerurlaub. WP_20150704_10_41_44_Pro   WP_20150704_10_41_54_Pro

Flieg, Mauer, fliieeg!

Leises, fast andächtiges Gemurmel umgibt mich, während ich langsam die Niederkirchnerstraße vom Martin-Gropius-Bau nach Westen in Richtung Stresemannstraße gehe. Schnell vorwärts zu kommen, ist unmöglich, denn Bürgersteig und Staße sind komplett mit Menschen gefüllt. Darüber in gut zwei Meter Höhe  schaukeln die weißen Lichtballons leicht im Abendwind. Nicht nur hier, sondern 15 Kilometer entlang der ehemaligen, innerstädtischen Berliner Mauer zwischen Bornholmer Straße in Pankow und Eastside-Gallery in Friedrichshain: 7000 Ballons, von ebensovielen „Ballonpaten“ betreut; geschätzte 2 Millionen Besucher an diesem Wochenende.

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Die Staße des 17. Juni zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule ist längst gesperrt. Hier läuft das offizielle Festprogramm mit „Gorbi“ und Beethoven. Wie man nachher hört, soll das ausgesprochen würde- und eindrucksvoll gewesen sein. Aber auch auf der Strecke vom Brandenburger Tor bis zum Potsdamer Platz ist praktisch kein Durchkommen.

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Blick vom Potsdamer Platz Richtung Brandenburger Tor

Uns aber hatte es in Richtung Kreuzberg gezogen. Denn genau an der Ecke Stresemannstraße/Niederkirchnerstr. hat die zusammengewürfelte Gruppe der Berliner Stadtmission nicht nur 35 Ballonpatenschaften übernommen, sondern auch einen kleinen Programm-Spot aufgebaut. Eigentlich ganz schlicht: Einzelne Menschen erzählen, wie sie den Fall der Mauer vor 25 Jahren erlebt – oder auch verpennt haben. Eine einladende Moderation, ein bisschen Live-Musik. Und die Menschen eilen nicht vorbei, wie das an normalen Abenden wäre, sondern bleiben stehen und hören zu.

WP_20141109_18_17_06_Pro  WP_20141109_18_02_29_ProViele bewegende Geschichten hört man in diesen Tagen. Eine Frau aus der Stadtmissiongemeinde Tegel erzählt mir z.B., wie sie damals am 9. November früh ins Bett gegangen ist und nichts mitbekommen hat, weil sie am anderen Morgen auch sehr früh zur Arbeit los musste. In der Frühe am U-Bahnhof die Zeitung gekauft und nur den Kopf geschüttelt: „Die Mauer ist offen“ – was soll denn diese Zeitungsente?! Erst (ich glaube) am Nordbahnhof, bisher von der DDR abgeriegelter Geisterbahnhof, beginnt sie zu begreifen: Wo sonst nur ein paar VoPos Wache standen, war jetzt reges Treiben. Die Mauer ist wahrhaftig offen! – Aber auch von Angst, Mut und Neugier bei den Ostberlinern hört man an diesem Tag viel. Und immer wieder das rückblickende Staunen, dass damals kein einziger Funke in die hochexplosive Situation geflogen ist, die Demonstranten konsequent gewaltfrei blieben, und von den Tausenden hochgerüsteter Soldaten in den Seitenstraßen keiner durchgedreht ist oder aus Versehen abgedrückt hat.

WP_20141109_19_11_00_ProLängst haben Kinder auf den angrenzenden Bäumen optimale Aussichtspositionen bezogen. Endlich ist es soweit: Auf der Großleinwand am Berliner Abgeordnetenhaus kann man erkennen, dass die ersten Ballons am Brandenburger Tor von ihren Ballonpaten per Hebeldruck in die Freiheit entlassen wurden. Es dauert aber noch ca. 10 Minuten, bis die Welle bei uns ankommt. Viele in die Luft gehaltene Smartphones (wie auch meins), etwas Applaus (am meisten bei einem verspäteten Ballon, der es dann doch noch schafft), aber kein Jubel, keine Euphorie. Auch jetzt eher Andacht und Nachdenklichkeit. Irgendwie ist es unspektakulär, wie die von ihrer Lichtquelle getrennten Ballons in den Himmel steigen (vom leichten Ostwind übrigens in Richtung Westen getrieben). Und doch ein  großartiger Abend, gerade so.

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Anschließend gibts noch was zu Essen und zu Trinken in unserer nahe gelegenen St. Lukas-Kirche. Die weit offene Tür lockt nicht nur Stadtmissioner an, sondern auch etliche weitere Gäste.

Flieg, Mauer, Fliieeg? Offene Türen?

In diesen Tagen kommt man nicht darum herum, auch an die Mauern und Stacheldrahtzäune zu denken, die heute nicht mehr mitten durch Europa, sondern außen um die „Festung Europa“ herum verlaufen. An denen viel Tausend mal mehr freiheitsuchende Menschen zu Tode kommen, als während der gesamten DDR-Zeit durch Mauerschützen umgebracht wurden.

Bei der Fernsehdiskussion zum Thema Flüchtlingsflut mit Maybrit Illner sind einige wirklich kompetente Gesprächspartner, die differenziert und realistisch die Lage beschreiben und sich für mutiges Annehmen der Situation einsetzen. Nur die beiden Vertreter der Parteien mit dem C setzen immer noch auf Abschottung und Zurückführung. Der junge Politiker mit deutlich sichtbarem Migrationshintergrund kann einem regelrecht leid tun. Offenbar hatte man ihn in ein Flüchtlingslager nach Italien geschickt, um seiner Kompetenz aufzuhelfen. Aber mit seiner These, man müsse die afrikanischen Flüchtlinge nur richtig fit machen, dann würden sie schon wieder nach Zentralafrika zurück gehen, offenbart er seine ganze Ahnungslosigkeit davon, was in unserer Welt wirklich los ist.

Wie gut, dass die Stimmung in Moabit anders ist und die Bereitschaft groß, die Flüchtlingsnotunterkunft (Traglufthalle) zu akzeptieren und zu unterstützen, die gerade von der Berliner Stadtmission (im Auftrag des Senats) an der Lehrter Straße gebaut wird. Das ist schon ein mutiges Projekt, weil es natürlich viele Besserwisser gibt, die solche eine Unterkunft für „menschenunwürdig“ halten. Aber im Moment hilft Geschwätz noch weniger als sonst, sondern nur konkrete Taten, auch wenn sie bei Weitem nicht den Idealzustand herstellen können, aber doch die größte Not lindern. Und wie schon vor dem LaGeSo (Landesamt für Gesundheit und Soziales, Aufnahmebehörde) versuchen wir von der Stadtmission dem Ganzen nach Kräften ein menschliches Gesicht zu verleihen. Mit der Erfahrung beim LaGeSo hat Christiane die stellvertretende Leitung übernommen. Übernächste Woche geht es los.

Das ist nochmal eine ganz andere Aufgabe, auch – oder gerade – weil die Flüchtlinge dort nur wenige Tage (oder vielleicht auch) Wochen bleiben sollen, bis feste Unterkünfte für sie gefunden sind. Wer weiß schon, wie schnell das wirklich gelingt.

Wie gut, dass unser syrischer Freund und „Lichtgrenze-Musiker“ Jean Samara das schon hinter sich hat und mit gesichertem Aufenthaltsstatus im Sharehouse wohnen kann.

An der „Lichtgrenze“ am 9. November singt er mit seiner Gitarre bewegende Lieder von der Schönheit seiner Heimatlandes…

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Gelungene Nothilfe

Im letzten Blog habe ich ja berichtet von der extrem angespannten Flüchtlingssituation in Berlin – und von der „Nothilfe-Anfrage“ des Berliner Senats u.a. an die Stadtmission.

Meine Frau Christiane hat diese Woche als Koordinatorin der Helfer vor der Zentralen Flüchtlingsaufnahmestelle im Landesamt für Gesundheit und Soziales in der Turmstraße in Moabit gearbeitet. Hier kommt ihr Rückblick:

„Es war eine superinteressante Woche – aber natürlich auch anstrengend. Am Montag haben wir bestimmt 700 – 800 Leute vor dem LaGeSo mit Kaffee, Tee, Wasser (es war warm) versorgt, haben Zwieback für die Kinder gehabt, mit ihnen gespielt und mit den Leuten geredet. Außerdem gab es zwei ärztliche Notfälle, die ich organisieren musste. Uli Neugebauer, der Leiter der Flüchtlingsarbeit bei der Berliner Stadtmission, hatte für den Montag schon ein Team mobilisiert (ich kannte ja keine Leute in Berlin) und dann über die Stadtmissionsgemeinden und alle nur denkbaren Kanäle um weitere Mitarbeiter gebeten.

Ich bin also mit einem relativ leeren Dienstplan gestartet – und habe jetzt, Ende der ersten Woche, eine Liste von 33 Leuten, die helfen wollen und können. Schon das allein ist ein tolles Erlebnis.

Alle Fotos vom Dienstag, als der erste Ansturm bereits bewältigt war.

Alle Fotos (Christiane Vorländer) sind vom Dienstag, als der erste Ansturm bereits bewältigt war.

Aber zurück zum Montag: Vor den Zelten standen Bierbänke, so dass sich die Leute setzen konnten (manche mussten den ganzen Tag warten). In den Zelten versammelten Sprachmittler immer Sprachgruppen von 10-20 Leuten um sich, nahmen deren Personalien auf und bereiteten den Weg für den Gang ins Amt. Die Personalien wurden dann an zusätzliche Mitarbeiter weitergegeben, die sie ins System eingaben, und erst dann kamen die Sachbearbeiter ins Spiel. Auf diese Weise sind an dem einen Tag über 1000 Leute „abgefertigt“ worden (nicht alles, aber überwiegend Flüchtlinge). Und am Abend hatte – anders als in der vorhergehenden Woche – jeder einen Platz zum Schlafen (auch die Winter-Notübernachtung der Stadtmission hatte ihre Türen jetzt für die Schutzsuchenden geöffnet).

Die Atmosphäre war total entspannt – und am Abend haben wir ein tolles Feed Back vom Leiter der Task-Force des Senats, Herrn Cwojdzinsky, erhalten: „So entspannt war das noch nie. Hier war ja richtige Volksfestatmosphäre.“

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Ab Dienstag ging es dann ruhiger zu, da der große Rückstau bewältigt war. Trotzdem werden wir wohl auch nächste – und vielleicht übernächste Woche noch dort verbringen, weil es für die Wartenden einen großen Unterschied macht, dass sie zwischendurch mit Kaffee oder Tee versorgt werden, ein paar nette Worte hören, man mal gemeinsam kräftig lacht – und die Kinder eine Anlaufstelle haben und immer mal wieder mit ihnen gespielt wird.

Allerdings ist echt viel Flexibilität gefordert: Die Task-Force sitzt drinnen und plant ununterbrochen, wie es weitergehen soll. Und da man ja in der Tat nie weiß, wie viele Flüchtlinge nun kommen, ist alles sehr schlecht kalkulierbar. Fakt ist aber, dass es viel mehr sind, als Schlafstellen vorhanden sind, so dass in Berlin inzwischen mehrere nicht mehr genutzte Schulen als Notschlafstellen eingerichtet worden sind und man Container aufbauen wird, um die Menschen unterzubringen. (Zwischenzeitlich stand im Raum, dass die Stadtmission eine solche Notschlafstelle übernimmt – Uli Neugebauer hatte mich schon gefragt, ob ich die leiten könnte – aber gestern bekamen wir die Info, dass die besagte Schule im Wedding jetzt in eine Erstunterkunft umgewandelt werden soll, und das gehört organisatorisch zur AWO).“

Trotz dieser gelungenen Nothilfe bei der Aufnahmestelle brennt die Flüchtlingsproblematik weiterhin an vielen Stellen. In Kreuzberg haben gestern Flüchtlinge mit Unterstützern eine Kirche besetzt, um Kirchenasyl zu erhalten. Rechtlich gibt es das nicht, aber eine Abschiebung aus einer Kirche heraus wäre politisch kaum möglich. Eins der Probleme dabei ist, dass die Asylablehnungen oft der Genfer Flüchtlingskonvention widersprechen.  Umgekehrt kann es auch nicht sein, dass die Flüchtlinge, die es schaffen, öffentlich auf sich aufmerksam zu machen, gegenüber den vielen anderen bevorzugt werden. Einfache Lösungen gibt es da nicht. Und die Herausforderung für unsere Gesellschaft ist groß. Auch, jetzt nicht rechter Polemik auf den Leim zu gehen. Ich fürchte aber für die Brandenburgischen Landtagswahlen morgen Schlimmes.

Nichts Schlimmes, sondern sehr Schönes und Lebendiges sowie ein paar Tausend Besucher erwarte ich hingegen für unser großes Stadtmissions-Sommerfest morgen: „Das Beste all inclusive“:

Es beginnt um 11 Uhr mit drei Gottesdiensten auf drei Bühnen (Hauptbühne, wo ich mitwirke, Jugendbühne, Kinderbühne). Anschließend gibt es natürlich vielerlei zu essen, ein buntes Programm auf allen Bühnen und viele Begegnungsmöglichkeiten.

Dazu verschiedene Möglichkeiten, die Arbeit der Stadtmission kennen zu lernen, Stände von Kooperationspartnern zu besuchen usw.. Weitere Infos unter: http://www.berliner-stadtmission.de/aktuelles/das-beste-all-inclusive/3dc9e4eb96b366db1821fb1477b4995e