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Ich sehne mich nach Frieden

9.November, Schicksalstag der deutschen Geschichte.
In diesem Jahr erinnern wir uns schwerpunktmäßig an den Fall der Mauer vor 30 Jahren. In Berlin läuft die ganze Woche an vielen Orten ein spannendes Programm. Und viele Gebäude werden mit beeindruckenden Videoprojektionen angestrahlt, die die Ereignisse von damals in die Gegenwart holen. Auf der modernen Fassade des neuerrichteten Stadtschlosses / Humboldforums wird nicht nur die Außenansicht des „Palastes des Repuplik“ wieder sichtbar, der genau hier stand, sondern der thematische Bogen wird bis heute gezogen zu fridays for future und aktuellen Fragen von Demokratie.img_20191108_185332_resized_20191108_081542711.jpg
„30 Jahre friedliche Revolution“ stellen auch die Frage nach der Friedlichkeit heute. Die Jahreslosung der Christen heißt ja „Suche den Frieden und jage ihm nach“.
Meine Gedanken dazu habe ich in einem Poetry ausgedrückt. Beim Gospelprojekt, von dem ich im vorigen Blog erzählt habe, kam dieses Poetry erstmals zur Aufführung: auf den Treppen des Berliner Doms.
Unser Artrejo-Filmteam hat daraus ein youtube-Video gemacht:

Den vollständigen Text findet ihr hier weiter unten nach den Fotos von Großprojektionen. Ich würde mich sehr freuen, wenn ihr das fleißig mit anderen teilt.

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Ich sehne mich nach Frieden                                Poetry von Gerold Vorländer

Ich sehne mich nach Frieden
für mich selber und für die ganze Welt,
ich hätte ihn schon längst bestellt
irgendwo im Internet.
Das wär‘ doch echt nett,
wenn das so einfach wär‘:
Geklickt, bestellt, schon kommt der Frieden her.

Suche Frieden, das hört sich so leicht an.
Ist aber mega schwer. Denn von allein kommt der nicht her.
Vielmehr kommt der Streit von ganz allein, mischt sich ein, ohne dass man will.
Überall.

Überall fallen Menschen übereinander her.
Sie sagen: Die anderen glauben anders.
Die anderen haben mehr.
Die anderen sind böse. Die anderen müssen bestraft werden.
Wir wollen sie loswerden.
Und so schmieden sie Waffen.
Werfen Bomben oder Brandsätze oder Steine.
Sie schießen mit Gewehren und Raketen
und schießen auch mit Worten.

Doch Frieden fängt nicht irgendwo an.
Sondern hier, bei mir und dir.  Wir!
sind dran, wir! sind gefragt,
nicht mit dem Finger auf andere zeigen,
sondern Haltung zeigen,
Brücken bauen und Hände reichen
zwischen Gleichen und Ungleichen.

Ich jedenfalls will keinen Krieg
und keine Mauern mehr.
Die in Berlin ist ja Gott sei Dank
seit fast 30 Jahren nicht mehr da,
Aber immer noch in Korea und Palästina und demnächst womöglich in den USA.
Und in den Köpfen.
Da wachsen grade Mauern schneller als du gucken kannst.
Wachsen aus dem Nährboden der Angst.

Aber ich will den Frieden suchen und ihr, hoff‘ ich, auch.
Will die Angst in ihre Schranken weisen.
Und den Frieden suchen.
Vergiss mal kurz die Welt
und all die miesen, fiesen News, die dich runterziehen.

Denn Frieden fängt nicht irgendwo an.
Sondern hier, bei mir und dir. Wir!
sind dran, wir! sind gefragt,
nicht mit dem Finger auf andere zeigen,
sondern Haltung zeigen,
Brücken bauen und Hände reichen
zwischen Gleichen und Ungleichen.

Und glauben!
Glauben, dass es möglich ist.
Glauben, dass nicht die Hetzer das letzte Wort behalten.
Dass die kalten,
harten Herzen,
die den Krieg als Mittel lieben
den Erfolg nicht kriegen, nicht siegen.
Sondern unterliegen.

Frieden fällt nicht vom Himmel.
Frieden muss auf Erden wachsen.
Doch der Himmel mischt sich ein
und will Mut zum Frieden geben.
Gott will den Frieden und nicht den Krieg.
Gott will Versöhnung und nicht den Hass.
Gott will offene Hände und nicht stampfende Soldatenstiefel.
Gott will Wahrheit, die das Leben schützt
und nicht – in Lüge verdreht – immer nur den gleichen,
den Mächtigen und Reichen,
den Frechen und Dreisten nützt.

Dem Frieden hilft es nicht
zu twittern und zu texten
zu schimpfen und zu hetzen,
die Gegner auf die Abschussliste zu setzen.

Dem Frieden hilft es,
miteinander zu reden,
zuzuhören statt zuzutexten
und fragen, fragen, fragen,
verstehen wollen
und nicht locker lassen,
sich nicht  frustrieren lassen,
sondern immer wieder nachfassen.

Denn Frieden fängt nicht irgendwo an.
Sondern hier, bei mir und dir.  Wir!
sind dran, wir! sind gefragt,
nicht mit dem Finger auf andere zeigen,
sondern Haltung zeigen,
Brücken bauen und Hände reichen
zwischen Gleichen und Ungleichen.
Frieden fängt nicht irgendwo an.
Sondern hier, bei mir und dir!

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„Kerzen-Revolution“

Machtlose Helfer und ein „Haus des Friedens“

Freitagabend. Ich bin auf dem Weg zur „City-Station“ der Berliner Stadtmission, einem Restaurant für Stadtarme und Obdachlose in Wilmersdorf. Endlich will ich mal zu der Freitagsandacht, die es dort seit einem halben Jahr – statt Sonntagsgottesdienst – gibt. Das gesamte Team wurde im vorigen Jahr neu zusammengestellt und das Konzept überarbeitet. So dass jetzt soziale Arbeit und geistliches Leben von den gleichen Mitarbeitenden gestaltet werden.

Von der S-Bahn-Station Halensee sind es nur ein paar hundert Meter zu Fuß den Kurfürstendamm rauf. Plötzlich stutze ich. Da sind merkwürdige Fußspuren auf dem Bürgersteig. Ich schaue genau hin. Schock: Der Schuhabdruck jedes zweiten Schrittes zeichnet sich durch einen dicken Rand aus Blut ab. Ich ahne schon, wohin es den Verletzen gezogen hat. Und wahrhaftig: als ich in die Joachim-Friedrich-Straße einbiege, sehe ich das Blaulicht eines Rettungswagens vor der City-Station.

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Auf der Bank neben dem Eingang sitzt ein junger Mann, umgeben von Rettungssanitätern, zwei knien vor ihm und behandelnd seinen Fuß oder sein Bein. Daneben steht unsere Einrichtungsleiterin Anna-Sofie. Sie schaut besorgt, begrüßt mich kurz und wendet sich dann wieder dem Verletzten zu.Eine andere Mitarbeiterin aus dem Team klärt mich drinnen auf: Der junge Mann sei ihnen durchaus bekannt, ein polnischer Junkie, der immer mal wieder hier auftaucht. Eigentlich müsse er ins Krankenhaus.

Das Restaurant ist gut gefüllt mit Männern und Frauen, denen man ihre  prekäre Lebenssituation deutlich ansieht. Die meisten essen etwas. Es ist ziemlich ruhig. Ich nicke einigen der Gäste zu und gehe nach hinten durch in den kleinen Gottesdienstraum. Nach der Andacht wird er zum „Nachtcafé“ mit 20 Matratzen-Schlafplätzen umgebaut. Hier sitzen schon einige Gäste um einen Tisch, meist im Seniorenalter. Einer hat einen vollen Teller vor sich stehen mit warmem Kartoffelsalat („Viel zu viel Mayonaise!“) und Schnitzel. Später erzählt er mir, dass er als Kind mal Geige lernen sollte. Aber das wäre nicht seins gewesen. Ein osteuropäisches Paar spielt „Dummkopf“, ein Kartenspiel für zwei Personen.

Ich hatte vorgeschlagen, wenn sonst keiner da sei, können ich die Lieder begleiten. Und so spiele ich kurz die vorgeschlagenen Lieder auf dem Klavier durch – und kriege nach jedem Applaus!

Schließlich kommt Anna-Sofie von draußen rein. Sie sieht ziemlich mitgenommen  aus: „Unsere Andacht beginnt ein paar Minuten später“ sagt sie in die Runde, die sich inzwischen versammelt hat. Eine Frau um die 60 mit schwarz gefärbtem Haar antwortet spontan: „Aber, wir haben Zeit, Anna-Sofie! Wenn´s um Gott geht, dann kann man ja wohl Zeit haben.“ Wir gehen nochmal weiter durch in‘s Büro. Anna-Sofie berichtet: Diese Sanis wären echt toll gewesen, ganz aufmerksam und sorgfältig und zugewandt. Und sie hätten dem Junkie sehr deutlich erklärt, dass er sofort ins Krankenhaus muss. Mit dem Blutverlust und dann draußen auf der Straße: Er würde die Nacht nicht überleben! Beim Fixen hatte er sich am Schienbein die Haut komplett aufgerissen. Aber er hätte beharrlich abgelehnt. Nein, er müsse unbedingt noch was ganz Dringendes erledigen. Auch drei andere Polen, die als Übersetzer hinzugezogen wurden, waren nicht in der Lage, ihn zu überreden. Und weil seine Wunde nicht mehr suppte, blieb den Helfern nichts anderes übrig, als ihn unterschreiben zu lassen, dass er auf eigenen Wunsch nicht in Krankenhaus gebracht werde. Nichts zu machen: Erwachsen und bei einigermaßen klarem Verstand gilt schlicht das Selbstbestimmungsrecht. Machtlose Helfer!

Der Berliner Senat hat für diesen Winter die Notschlafplätze für Obdachlose erheblich aufgestockt. Und erschütternder Weise bleiben in vielen Nächten über 200 Matratzen leer.  Aus den unterschiedlichsten Gründen: Klaustrophobie, Angst vor osteuropäischen Obdachlosen, Misstrauen, Trotz, psychisch völlig durch den Wind… – Oft wird empört gefragt: Wie kann es in einem reichen Land wie unserem so viele Obdachlose geben? Die Gründe sind vielfältig. Es ist nicht nur die Wohnungsnot.

Im Gottesdienstraum  haben sich zur Andacht diesmal nur etwa 12 Menschen versammelt. Deutlich weniger als sonst. Aber auch verständlich nach einem Tag mit drei Hausverboten (jeweils mit Polizei), jemandem, der in den Eingangsbereich gekotzt hatte und dann noch dem verletzten Junkie. Da haben sich manche aus dem Staub gemacht.

Die anderen singen mit Begeisterung und so laut, als wären sie nicht 12, sondern 50: „Ich lobe meinen Gott, der aus der Tiefe mich holt, damit ich lebe!“

Die Biblische Lesung übernimmt immer einer der Gäste. Heute ist der Mann dran, der als Kind mal Geige gelernt hatte: Struppiges graues Haar und Flecken auf dem Pullover. Er liest wirklich gut und mit Verstand. Nur dass er mal eben aus den 72 Jüngern, die Jesus aussendet, 720 macht. Die sollen, laut Lukasevangelium in Häuser gehen und Frieden bringen. Wenn  jemand den Frieden nicht wolle, sollen sie einfach weggehen und den Staub von den Füßen schütteln. Hier sollte die Lesung planmäßig enden. Aber unser Lektor liest unbeirrt weiter. An seinem schelmischen Lächeln sieht man, dass er genau weiß, was er tut: Seine Lesung endet mit „Es wird Sodom erträglicher gehen an jenem Tag als dieser Stadt“.

Wiederum unbeirrt erklärt Anna-Sofie mit einfachen Worten, wie das mit dem „Frieden in ein Haus bringen“ geht. Und dann bekommen alle ein Stück Transparentpapier und Stifte, um gemeinsam ein „Kirchenfenster“ zu gestalten. Damit in Zukunft jeder, der zur Citystation kommt, sofort sehen kann: Dies ist ein Haus des Friedens. Alle malen und schreiben mit Hingabe und hochkonzentriert. Das osteuropäische Paar hat längst die Spielkarten beiseitegelegt. In den Fürbitten am Schluss kommen die auf Zetteln gesammelten Themen der Woche vor: Gebet um eine Wohnung; für eine Tochter, die krank ist; für den Frieden im Haus; für alle Helfer, die in dieser Nacht arbeiten…  Ganz nah am Leben.

Auf meinem Heimweg an diesem Abend lese ich nicht irgendetwas, wie meistens in der S-Bahn. Mein Kopf ist zu voll und mein Herz zu berührt.

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P.S.

Wie ich in den nächsten Tagen erfahre, waren mit dem bisher Erzählten die Herausforderungen des Tages noch immer nicht bewältigt: An dem Abend hat eine Dame noch einen Krampfanfall  bekommen und ein Gast hatte einen Schizophrenenschub. – Ich kann vor dem, was das Team dort leistet, nur meinen Hut ziehen.

Und:  Der junge polnische Mann hat tatsächlich überlebt. Er hat am Freitag noch seine „Geschäfte“ erledigt und ist in der Nacht in ein Krankenhaus gegangen, wo er weiter behandelt werden konnte. Also waren die Helfer doch nicht so machtlos. Gott sei Dank!

KirchenfensterFoto: Anna-Sofie Gerth

Journey to Peace – Reise zum Frieden

Ich finde, das ist ein sehr passendes Adventsthema, in diesem Jahr vielleicht noch dringlicher als zuvor. Zu wirklichem Frieden, biblisch „Schalom“, werden wir in dieser Welt immer nur unterwegs sein – bestenfalls. Im Moment sind leider viele in der anderen Richtung unterwegs.  Deshalb ist es so wichtig, wach und unbeirrt nicht mit diesem Strom zu schwimmen, sondern immer wieder zu versuchen, eine echte Alternative zu den immer schärferen Tönen und Handlungen zu gestalten. Im biblischen Leitwort der Berliner Stadtmission „Suchet der Stadt Bestes und betet für sie zum Herrn“ dann steht da im hebräischen „Sucht den Schalom der Stadt“, d.h. sucht nach einem Frieden ohne Verlierer.

Den Titel dieses Blogs habe ich aber von der Awra Amba Community in Äthiopien, von der zu berichten ich ja noch versprochen hatte. Das will ich jetzt endlich nachholen und dann noch von ein paar aktuellen Projekten unserer Arbeit erzählen.

Kurz vor Woreta am Ostufer des Tanasees biegen wir vom Highway 22 ab, um die Kommunität zu besuchen, von der wir in dem wunderbaren Äthiopienbuch „Der Mann, der den Tod auslacht“ (Philipp Hedemann) gelesen hatten. Das Kapitel ist überschrieben mit „Der Philosoph mit der Badehaube“.

Gemeint ist Zumru Nuru, der Gründer und Leiter einer Kommunität, die ihren Sitz in diesem Dorf hat, aber inzwischen Mitglieder in ganz Äthiopien und manchen anderen Teil der Welt zählt. Er ist laut Philipp Hedemann „einer der wenigen Atheisten Äthiopiens und der wohl bekannteste Ungläubige seines Landes.“ Wobei ich mir da gar nicht so sicher bin, ob das voll zutrifft. Aber in der Lebensgemeinschaft, die er aufgebaut hat, spielt Religion keine Rolle. Weshalb, versuche ich gleich zu erklären.

Wir werden von einigen Mitarbeitenden freundlich empfangen und ins Gemeinschaftshaus geführt. Ja, man würde mal fragen, ob sich Zumra Zeit für uns nehme. Bis dahin sollten wir uns ein wenig umschauen. An den Wänden hängen handschriftliche Plakate mit den Kerngedanken Zumras. Ganz schlichte, weisheitliche Sätze, die aber erhebliche Konsequenzen haben, wenn man sie umsetzt. (Siehe Titelbild)

Nach einiger Zeit tritt er würdevoll in den Gemeinschaftsraum und setzt sich auf die einfache Bank uns gegenüber. Und wahrhaftig: Bei seiner merkwürdigen knatschgrünen Kopfbedenkung kann man nicht anders als an Badekappe denken. Sein junger Assistent, der uns vorher schon ein paar Dinge erklärt hat, fungiert jetzt als Übersetzer. Denn Zumra spricht kein Englisch. Er hat auch nie Lesen und Schreiben gelernt. Aber er war wohl schon als Kind das, was wir „emotional hochbegabt“ nennen würden. Mit vier begann er Fragen zu stellen, die seine Familie und sein Dorf völlig irritierten: Warum wird meine Mutter so behandelt, als sein sie weniger wert als mein Vater? Warum dürfen wir von Muslimen kein Rindfleisch kaufen? Haben Kinder keine Rechte?  Muss man Menschen, die zu alt oder schwach zum Arbeiten sind, nicht helfen? Usw.

Als Jugendlicher machte er dann jede Menge Vorschläge, wie man das Leben im Dorf ändern müsste, woraufhin man ihn schlicht für geistesgestört erklärte. Aber er kam von diesen Gedanken nicht los. Und irgendwann über verschiedene schwierige Stationen fand er Menschen, die sich von diesen Gedanken anstecken ließen und bereit waren, sich mit auf die Reise zum Frieden zu machen.

 

Im Kern geht es um 5 Prinzipien:

  1. Gleiche Rechte für Frauen respektieren.
  2. Gleiche Rechte für Kinder respektieren.
  3. Menschen, die zu alt oder schwach zum Arbeiten sind, helfen.
  4. Schlechtes Reden und Handeln vermeiden, statt dessen Zusammenarbeit, Frieden, Liebe und gute Taten üben.
  5. Alle Menschen, ungeachtet ihrer Unterschiede, als Brüder und Schwestern annehmen.

Später werden wir noch durchs Dorf geführt und sehen wie diese Gedanken ganz konkret umgesetzt werden: in Kindergarten und Schule, Werkstätten und betreutem Wohnen für Alte und Schwache oder auch dem selbstentwickelten Holz-sparenden Herd bzw. Backofen. Alles ganz schlicht, aber sauber und funktional.

Auf den ersten Blick wirkt die Kommunität kommunistisch, ist sie aber nicht. Jeder, der kann, arbeitet für sein eigenes Einkommen und hat Privatbesitz. Aber der Erlös von einem Tag in der Woche (also nicht „der Zehnte“, sondern „der Siebte“) ist für die Gemeinschaft und besonders für die Schwachen.

Dazu kommen, wie wir erfahren, klare Methoden zur Partizipation aller an Entscheidungen und gewaltfreien Konfliktlösungen. In diesem Sinne ist Zumra kein Guru, obwohl er auf uns schon so wirkt. Auch wenn sein Wort sicher ein besonderes Gewicht hat, hat er nicht mehr zu sagen, als andere. Reise zum Frieden eben.

Das Ganze verzichtet aber bewusst auf irgendeinen religiösen Überbau.  Zumra erklärt uns: „Falls es ein Leben nach dem Tod gibt, kannst du das aber nicht überprüfen („double check“). So tun wir einfach unser Bestes, ein Stück Paradies vor dem Tod zu leben.“

Im Äthiopischen Kontext hat diese Aussage eine völlig andere Bedeutung, als bei uns. Denn am Horn von Afrika sind im Grunde alle Menschen religiös und glauben an irgendeinen Gott. Und wenn es sich um orthodoxe Christen handelt, dann ist das ganze Leben geprägt durch unendlich viele Regeln, die zu erfüllen sind, 170 Fastentage im Jahr, viele Heilgentage, an denen nicht gearbeitet wird. Hochzeiten und Beerdigungen müssen tagelang gefeiert werden, womit sich die Familien finanziell oft hoffnungslos übernehmen. Das alles ist in der Afra Amba Community extrem reduziert. Auch der Sonntag ist nicht prinzipiell frei. Wobei es jedem freisteht, sich dann auch mal freizunehmen und sowieso auch persönlich religiös zu sein. Offenbar hat Zumra zu oft erlebt, dass gerade auch die christliche Religion die Menschen in Äthiopien davon abhält, die Probleme des Landes konsequent anzupacken.

Zurück nach Deutschland:

Bei der Berliner Stadtmission packen wir weiterhin Probleme konsequent an –  und erleben den christlichen Glauben und besonders das (gemeinsame) Gebet als wesentliche Kraftquelle in all den Herausforderungen. Vor einigen Wochen haben wir z.B. – vom Senat finanziert – eine Clearingstelle für Menschen ohne Krankenversicherung eröffnet. Wie groß dieses Fass ist, hat aber im Vorfeld keiner geahnt: Welche Beträge bisher Krankenhäuser nicht bezahlt kamen und welche Menschen, obwohl sie einen Rechtsanspruch haben, in unserem Land aus irgendwelchen Gründen aus der Versicherung herausgefallen sind!

Um auf die Situation von Obdachlosen aufmerksam zu machen, haben Christoph von Weiztel (Bariton), Uwe Packusch (Klavier) und ich (Sprecher) vor zwei Wochen die „Oper für Obdach“ erneut aufgeführt, diesmal  in München im Hauptbahnhof. (Vgl.mein Blog vom November 2017) Technische Probleme führten in München leider dazu, dass wir nur zwei von vier geplanten Auftritten machen konnten. Trotzdem war das Zuschauer- und Presseecho enorm. Nicht nur, weil es solch eine Performance im Münchener Hauptbahnhof überhaupt noch nie gegeben hat. Auch hier wurde wieder die Kombination von inszenierten Schubert-Liedern (Winterreise) mit Bibeltexten als besonders intensiv erlebt.

Am Samstag (8.12.) gestalte mich mit vier anderen zusammen etwas Neues im Öffentlichen Raum: „First Christmas“ – musikalisch-szenische Weihnachtsperformance auf der Bühne im „Ringcenter“ an der Frankfurter Allee, Berlin Friedrichhain (15.30 und 17.30). Wir sind sehr gespannt, wie das gelingt, und welches Echo das haben wird.

Auf dem Weg zum Frieden waren für mich aber auch die Konzerte mit dem Weihnachtsoratorium in der St. Lukaskirche, bei denen ich eine geistliche Werkeinführung gegeben habe.

 

Und auch: Das Adventskonzert der Stabsmusikkorps der Bundeswehr gestern Abend im Berliner Dom. Ich war geladener Gast, weil die Hälfte der Spenden am Ausgang für die Berliner Stadtmission bestimmt waren. (Am 20. Februar gibt das Stabsmusikkorps in der Universität der Künste ein Benefizkonzert komplett für die Stadtmission, konkret für das neue „Zentrum am Zoo“ mit Beratungsangeboten und Bildungsprogrammen.)

Ich habe die adventliche Musik (von „Es kommt ein Schiff geladen“ bis zur Nussknackersuite) dieses phantastischen symphonischen Blasorchesters genauso genossen wie die einfühlsamen und durchaus geistlichen Zwischenmoderationen des Chefdirigenten. Am Schluss wurde gemeinsam gesungen „Komm, o mein Heiland Jesus Christ, meins Herzens Tür dir offen ist…“

Ganz ehrlich, so faszinierend, wie der Weg zum Frieden von der Afra Amba Community gestaltet wird, – ich möchte ihn nicht ohne die Weihnachtsbotschaft gehen müssen.

In diesem Sinne wünsche ich Euch eine gesegnete und friedensfördernde Advents- und Weihnachtszeit.

 

From a distance?

„From a distance the world looks blue and green (Aus der Entfernung scheint die Welt blau und grün)
And the snow capped mountains white (und der Schnee bedeckt weiß die Berge )
From a distance the ocean meets the stream (aus der Entfernung vereinigen sich Ozean und Strom)
And the eagle takes to flight (und der Adler erhebt sich in die Luft)
From a distance there is harmony (aus der Entfernung ist da Harmonie)
And it echoes through the land (und ihr Echo erfüllt das Land)
Its the voice of hope, Its the voice of peace (es ist die Stimme der Hoffnung, die Stimme des Friedens)
Its the voice of every man (die Stimme, jedes Menschen)„.

An diesen Song von Julie Gold und Nanci Griffith wurde ich erinnert, als ich vor Kurzem das Titelfoto zu diesem Blog aufgenommen habe. (Wo das war, verrate ich am Ende.)
Die Erde vom Mond aus – unfassbar schön, wie Astronauten immer wieder berichten. Eine Kostbarkeit im Weltall. Unvorstellbar, was Mensch da unten anrichten.
„Aus der Entfernung scheint es, als gäbe es keine Kriege, als müsste keiner Hunger leiden und jeder bekäme, was er braucht“, heißt es im Lied weiter. Und dann im Refrain:
„God is watching us from a distance (Gott sieht uns aus der Entfernung zu).“

Manchmal kann man den Eindruck bekommen, als würde Gott in der Tat all das Schreckliche, das in unserer Welt geschieht, aus der Entfernung gar nicht mitbekommen. Jedenfalls wenn die Vorstellung von „Gott“ geprägt ist durch philosophische Kategorien und abstrakte Begriffe wie Allmacht, Allwissenheit, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit. Das zusammen logisch mit der Weltlage in Einklag bringen zu wollen, führt uns in unlösbare Widersprüche und Aporien.

Aber ist das überhaupt ein sinnvoller Denkansatz?

Für mich persönlich und für die Arbeit in der Berliner Stadtmission ist ein ganz anderer Ansatz entscheidend: Nämlich die Welt und unser Leben konsequent aus der Perspektive Jesu zu sehen. Und wenn ich „Jesus“ sage, dann meine ich: „Gott auf Augenhöhe“. Der in einer grenzenlosen Selbstbeschränkung die abstrakte Distanz verlassen hat und auf Tuchfühlung zu unserer Realität gegangen ist. Der längst nicht alle Fragen beantwortet hat, aber die relevanten – nicht theoretisch, sondern praktisch.

Und deshalb gehört hinter „From a Distance“ ein fettes Fragezeichen. Und so verstehen wir auch unsere vielfältigen Aufgaben im Auftrag, der Mission Jesu.

Kleingruppen beim Mitarbeitereinführungstag

Kleingruppen beim Mitarbeitereinführungstag

Heute haben wir im Rahmen der Einführungstage für neue Mitarbeitende darüber nachgedacht, was diese Mission für uns bedeutet: Es geht um die Menschenfreundlichkeit Gottes, die nur in konkreten Beziehungen Gestalt gewinnt und real wird; ganz lebensnah, Bedürfnis- und Ressourcen-orientiert. In den Fußspuren Jesu kann man nicht auf Distanz gehen.

Und wahrscheinlich trägt genau das zum Besonderen der Berliner Stadtmission bei, dass wir nicht auf Distanz gehen, sondern uns einlassen auf die unterschiedlichsten Lebenswelten und Herausforderungen.

Am 1. Mai war ich ein Jahr hier, und habe es noch keinen Tag bereut – obwohl die Fülle der Arbeit mir inzwischen auch hier gelegentlich über den Kopf wächst. (Das – zusammen mit mehreren Dienstreisen in den vergangenen Wochen – hat auch zur langen Pause seit meinem vorigen Blog geführt).

Aber nun – ein paar Beispiele aus dieser Arbeit der letzten Wochen:

1. Tag der Offenen Tür in der Bahnhofsmission am Zoo:

Ich zitiere aus dem Rückblick von Dieter Puhl, der diesen faszinierenden Arbeitszweig leitet,  und zeige Euch ein paar meiner Fotos dazu:Blog Nr 30-001

„Um die 1500 obdachlose Gäste besuchten uns gestern zum Tag der Bahnhofsmission am Zoo und zusätzlich ca. 1500 interessierte Besucher, Freunde, Netzwerker. Gleichzeitig wurde die Ausstellung UNSICHTBAR in der Haupthalle eröffnet, bleibt 14 Tage hier.
Das war ein tolles Durcheinander, enorme Vielfalt, das waren wirklich Begegnungen auf Augenhöhe, hier trafen sich Menschen, die neugierig aufeinander waren.Blog Nr 30-003
Noch nie war unser Musikprogramm so reichhaltig und unterschiedlich (Blaskapelle der Polizei, Folkmusic mit Edwina und Deko, Rock, Proft, IG Blech, Chinesische Gemeinde u.v.a.), noch nie das Essen in enormer Breite so lecker (Freiwillige Feuerwehr Buchholz, Curry 36, Dönerstand, Lieferando mit Pizza, Deutsche Bank mit Salaten, unser Grill – bestückt durch die Berliner Tafel, Rotary Berlin International mit Kuchenstand, Freimaurer mit leckeren Stullen, Lazarus Orden mit Schmalzstullen, ODEG mit Pfannkuchen, Interconti mit Suppe, viele Freunde mit selbstgebackenem Kuchen, Spreequell mit hübschem Getränkeangebot und, und, und…).

Blog Nr 30-009 Blog Nr 30-008
80 Ehrenamtliche packten an und zu, gaben sich ein, waren freundliche Ansprechpartner.
Der Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf leistete tolle Unterstützung, am Grill und vielen anderen Stellen.
Unsere hauptamtlichen Kolleginnen und Kollegen hatten alles gut vorbereitet und hielten alles beieinander.
Kolleginnen und Kollegen der Berliner Stadtmission (Kinderschminken, Med. Zentrum) standen zur Seite, Bundes- und Landespolizei, DB Sicherheit, FH Potsdam, die Bundesgeschäftsstelle der Bahnhofsmissionen auch.
Freunde der Deutschen Bahn und der Stiftung Deutsche Bahn hielten viele Überraschungen bereit, die schönste, alle blieben sehr lange.
Christina Rau kommt wieder, viele andere auch.
Aus Interessierten wurden Freunde, der Bahnhofsmission Zoo, vornehmlich aber ihren Gästen, Blog Nr 30-010die hier Schutz, Hilfen und Zuspruch suchen.
Einige habe ich sicher vergessen – sorry! Bedanken möchten wir uns bei allen. Von Herzen!!!
Wir wissen aber auch, Jesus ist am Zoo ein verdammt guter Chef, der alles beieinander hält, gerade auch an solch einem Tag.“

Besser kann man das „nah ran, statt distanziert“ kaum erleben als hier, wo die allerunterschiedlichsten Gruppen und Milieus miteinander einen Tag gestalten und erleben.

2. Gemeindejubiläen: 40 Jahre Citystation in Wilmersdorf – 90 Jahre Gemeinde in Pankow

An einem Sonntag (Jubilate, 26.04.) haben wir nacheinander die bewegten und manchmal auch schwierigen Geschichten beider „Standorte“ in Festgottesdiensten gefeiert. Vormittags hatte ich nur ein kurzes Grußwort (für die Predigt war Direktor Joachim Lenz zuständig), nachmittags hatte ich in Pankow die Festpredigt zu halten. Aber interessant fand ich ein kleines Gespräch am Rande des Gottesdienstes in Wilmersdorf:
Neben mir saß eine ältere Dame, die ganz neu nach Berlin gezogen war, ich glaube aus dem Hannoverschen. Kurz nach meinem Grußwort, in dem ich auf das andere Jubiläum hingewiesen hatte, stieß sie mich an und flüsterte mir zu: „Pankow? Das war doch Ostberlin! – Gab´s da auch Gemeinden?“

Ja, die gab es: mutige, vielleicht auch ein wenig sture, jedenfalls unbeirrbare christliche Gemeinden. Und immer Kreativität, um in den Herausforderungen der jeweiligen Zeit zu bestehen.

Angebote in der Citystation: Jura alltagstauglich

Angebote in der Citystation: Jura alltagstauglich

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Bunte Einladung in Pankow

 

3. Klausur des Konvents in Halle

Zum Konvent der Berliner Stadtmission gehören außer den beiden Vorstandsmitgliedern (Joachim Lenz und Martin Zwick) und uns drei Leitenden Mitarbeitenden (Jörg Friedl, Diakonie; Andreas Schlamm, Bildung, und ich) noch die Direktorin aller unsrer Hotels (Dana Schmiedl), der Personalchef (Uwe Kathmann) und der Chef der Liegenschaft- und Serviceabteilung (Sven Geisthardt). Nach Jahren von personellem Umbau  ist also zuletzt mit dem Wechsel des theologischen Vorstandes bzw. Direktors das erneuerte Leitungsteam komplettiert. Und diese beiden Tage waren vor allem Fragen neuer Arbeitsformen und Prioritäten dienen und das Vertrauen im neuen Leitungsteam  fördern (- erfolgreich – wie ich finde). Zwischendurch nutzten wir aber die Lokalität und besuchten die beeindruckenden, im 18. Jahrhundert aufgebauten Diakonieanstalten von August Hermann Francke: Waisenhaus, Bildungsanstalt, Missionsschule, Schriftenverlag usw.. In wenigen Jahren entstand unter der ausgesprochen kreativen wie strengen Leitung von Franke ein Werk mit Weltruhm – bis heute. Zur Zeit läuft der Antrag auf Anerkennung als Unesco Welt-Kultur-Erbe.Blog Nr 30-015 Blog Nr 30-016 Blog Nr 30-017

Verblüffend fand ich bei unserem Besuch vor allem das Museum der Bildungsanstalt mit Exponaten aus „der Mission“, d.h. aus verschiedensten Teilen der Welt. Sortiert zwischen den beiden Polen „Schöpfung“ und Kultur.

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Verblüffend auch gewisse Methoden August Hermann Franckes, mit dem immer vorhandenen Geldmangel umzugehen:

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Geldmangel haben wir heute bei der Berliner Stadtmission natürlich auch, besonders, weil wir uns immer wieder neuen Herausforderungen stellen und eben nicht distanziert unseren „Stiefel“ durchziehen. Die Methode von Francke wollen wir aber eigentlich nicht anwenden. Deshalb freuen wir uns über jede Spende, mit der unsere Arbeit unterstützt wird. Und ich freue mich, dass einige meiner Blog-Leser zu diesen Spendern gehören. Ein Kreis, der durchaus noch Zuwachs verträgt. Z.B. für unser neues „ShareHaus Refugio“ in Neukölln (Stadtkloster, Kiezcafé, Integration von Geflüchteten), mit dem wir wohl Anfang Juni endlich beginnen können. Oder für die interkulturelle Gottesdienstform „grenzenlos“, mit der wir in der „St. Lukas Kirche“ begonnen haben. (Beides konkrete Spendenzwecke, die man in Verbindung mit seiner Überweisung angeben kann:

SPENDENKONTO
IBAN:DE63 1002 0500 0003 1555 00
BIC: BFSWDE33BER
Kto.: 31 555 00
BLZ: 100 205 00
Bank für Sozialwirtschaft)

Wir versuchen jedenfalls nicht aus der Distanz, sondern aus der Nähe die „Stimme der Hoffnung und des Friedens“ zu stärken.

Übrigens: Das Foto mit einem Bett auf dem Mond habe ich in meinem Hotelzimmer in Fulda aufgenommen, wo wir vorige Woche wieder an der Jahrestagung des Bundesverbandes der Stadtmissionen teilgenommen haben (für mich nun das erste Event, das ich hier zum zweiten Mal erlebe).
Als ich abends ins Zimmer kam und das Licht anschaltete, hab ich nicht schlecht gestaunt, als mir statt einer Deckenleuchte unser heimatlicher Planet entgegenstrahlte.

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