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Lost Place, Babylon, Frühling und ein trauriger Todesfall

Die Überschrift zeigt schon, dass ich euch mal wieder ein kleines Potpourri von Eindrücken zusammengestellt habe. Dabei sind die ersten drei am vorigen Wochenende auf einer Fahrradtour durch Berlin eingesammelt worden, also mal wieder eine original Berliner-Entdeckungsreise.

Sogenannte „Lost places“ gibt es in Berlin im Vergleich zu den 90er Jahren leider immer weniger, also verlassene und scheinbar verlorene Orte, abgesperrt durch teilweise löchrige Bauzäune, von Gras, Gebüsch und Birken überwuchert, mit morbidem Charme. Aber es gibt immer noch mehr davon, als in jeder anderen deutschen Millionenstadt. Teilweise wurden sie inzwischen abgerissen und neubebaut, teilweise mit genau diesem Charme als touristische Attraktion geöffnet (wie die Beelitzer Heilstätten, von denen ich im vorigen Herbst berichtet habe, oder die ehemalige Abörstation auf dem Teufelsberg). Manche aber gammeln – hermetisch abgeriegelt – im Dornröschenschlaf vor sich hin. So auch die ehemalige Irakische Botschaft in der DDR.

In den drei anderen Plattenbauten am Otto-von-Guericke-Platz in Niederschönhausen (Pankow), einem ehemaligen Diplomatenviertel mit DDR-Charme, sind inzwischen Büros eines Dachverbandes für Mittelständige Unternehmen eingezogen.

Um die ehemalige Irakische Botschaft aber kümmert sich keiner. Das Grundstück gehört der Bundesrepublik, das Gebäude einschließlich unbeschränktem Nutzungsrecht des Grundstücks aber dem Irak. Und der hat kein Interesse daran; die Botschaft residiert inzwischen in einer wunderschönen Villa aus den 20er Jahren in Berlin-Dahlem. Längst sind in Niederschönhausen die nach 1991 offen herumliegenden Akten geplündert, loses Metall verhökert, Mobiliar anderweitiger unbekannter Nutzung zugeführt ;-). Ein Brand zerstörte den Rest des Inventars.

Wir haben kein Loch im Zaun gefunden und sind auch nicht drüber geklettert, sondern haben nur davor gestanden und die Köpfe geschüttelt. Angeblich ist das Ziegel-Lochmuster im Erdgeschoss was Besonderes…

Gerade mal 250 Meter entfernt finden wir ein anderes historisches Gebäude, das Ballhaus Pankow. 1880 als „Restaurant Schloss Schönhausen“ erbaut, ist es nach seiner gründlichen Restaurierung 1995 kein lost place, sondern eine chique Veranstaltungs- und Hochzeitslocation. Allerdings zur Zeit wegen Corona auch geschlossen.

Weiter gings mit einem Abstecher zu „Alfi’s Eis“ im Flora-Kiez, wo es (unter vielen sehr guten Eiscafés in Berlin ) unserer Meinung nach das allerleckerste Eis gibt. Vor allem das „Salted Caramel“ ist dringend zu empfehlen.

Wir hatten gehört, dass an der Ecke Badstraße-Panke in Wedding-Gesundbrunnen eine neue Staffel von „Babylon Berlin“ gedreht wird, was uns natürlich neugierig gemacht hat. Wie ich jetzt gerade recheriert habe, gab es am jetzigen Drehort, der „Luisenbad- Bibliothek“, im 18. Jahrhundert eine Heilquelle mit Brunnen- und Badehäuschen und einem hübschen Park. Ein beliebtes Ausflugsziel vor den Toren des damaligen Berlin, das dem im 19. Jahrhundert dort entstehenden Quartier den Namen „Gesundbrunnen“ verliehen hat.

Industrialisierung und Straßenbau haben die Quelle damals zum Versiegen gebracht. Auf dem Nachbargrundstück direkt an der Panke entstand in dieser Zeit das Marienbad, ein Heil- und Schwimmbad mit Theater-, später Kinosaal und Restaurant als Mittelpunkt einer sich ausdehnende Vergnügungsmeile. Der Drehort, heute auf einem Hintergrundstück der Badstraße und daher akustisch vom Autolärm abgeschirmt, ist also eine historisch zutreffende Lokalität. Nur dass die Fassade für den Film jetzt für eine Synagoge umgestaltet wurde.

Das war schon hochinteressant, dort hinein zu spingsen. Offenbar war gerade Drehpause und die Schauspieler*innen und Statisten versorgten sich mit einem Imbiss. Eine optisch ganz merkwürdige Mischung von Bildern, die ziemlich genau 100 Jahre auseinander liegen. Insgesamt machte das Ganze aber auch den Eindruck, als gebe es bei Dreharbeiten häufig für die Mehrzahl der beteiligten Personen jede Menge Leerlauf. (Ich glaube, das wäre nicht meins…) Interessant übrigens auch zu sehen, wie der Drehort nach einer Seite mit einem riesigen monochrom-grünen Tuch abgeschirmt ist, wo – so vermute ich – später digital die historische Straßenflucht verlängert wird.

Extrem lustig fand ich, dass alle so weiße Schlabberlätzchen anhatten, damit bei der Essenspause die Kostüme nicht in Mitleidenschaft gezogen werden.

Um diese Fotos für euch zu schießen, hab ich übrigens mein Leben riskiert, wie man hier sehen kann 😉

Der Heimweg führte uns dann an der Panke entlang, über den Mauerstreifen und vorbei an einem Kinderbauernhof. Frühling in Berlin! Und man glaubt es nicht: Alle diese Fotos sind nicht vom Stadtrand oder aus Brandenburg, sondern mitten aus der 3,7- Millionen-Metropole. Das ist schon ziemlich einzigartig an unserer Stadt.

So, und jetzt zum traurigen Teil meines Blogs.

Wahrscheinlich ist jeder Todesfall traurig. Aber es hat mich besonders tief erschüttert, als ich am Dienstag die Nachricht erhielt, dass einen Tag vorher Sven Lager im Alter von nur 56 Jahren seiner Krebskrankheit erlegen ist.

Mit der spannenden Idee eines „Sharehauses“ für Geflüchtete und Einheimische kam er 2014 mit seiner Frau Elke aus Südafrika zurück. Dort waren die beiden weit über Berlin hinaus bekannten Schriftsteller Christen geworden – zu ihrer eigenen Überraschung und all derer, die sie kannten. Ein paar Jahre waren wir enge Weggefährten und haben zusammen für die Stadtmission das Sharehaus Refugio in Neukölln aus der Taufe gehoben. Unvergessen auch unsere Pilgerreise nach Iona in Schottland (2016), zu dritt zusammen mit Andreas Schlamm.

(Sven Lager, links, in Schottland)

Am Mittwoch durfte ich mit der Hausgemeinschaft des Refugio auf der Dachterrasse eine bewegende Abschiedsfeier erleben. So viele Menschen, auf deren persönliche Entwicklung Sven entscheidenden Einfluss hatte! Denn er konnte nicht nur jeden Menschen annehmen, wie er ist. Sondern er sah in jeder und jedem sofort auch das unglaubliche Potential. Ein Ermutiger und Beflügler!

„Jeder Mensch will ankommen“ heißt das Büchlein, das wir gemeinsam geschrieben haben (Refugio-Geschichten und Hintergründe), für ihn das letzte seiner insgesamt 9 Bücher, einige davon Bestseller. Dieses ist leider durch die unselige politische „Wir schaffen das (nicht)“-Debatte ausgebremst worden.

„Jeder Mensch will ankommen“ – ich vertraue darauf, dass Sven jetzt bei dem angekommen ist, den er über alles liebte: Jesus, dem Leben, das nie vergeht.

„Helles Deutschland“

Was für eine schlichte und gleichzeitig geniale Formulierung unseres Bundespräsidenten: „Dunkeldeutschland“ und „Helles Deutschland“. Manchmal können Vereinfachungen auch ungemein hilfreich sein und aus dem politisch-ausgewogen-lavierenden Gequatsche herausführen.

Und wie gut ist es, dass in den letzten Tagen die Medien endlich auch auf den Trichter gekommen sind, nicht nur Horrornachrichten zu bringen, sondern eben auch helles Deutschland zu zeigen: Vorhin in den ZDF, rbb und ARD-Nachrichtensendungen die Bilder vom – ja fast kann man sagen: Flüchtlingsbegrüßungsfest am Münchener Hauptbahnhof.

Wie wichtig sind solche Bilder, die ermutigen, die Lust machen, die ein positives Gefühl vermitteln: Ja, wir sind dazu in der Lage, diese ohne Zweifel riesengroße Aufgabe zu stemmen! Fast hat man den Eindruck, diese Herausforderung  tut unserem Land richtig gut: Wann hatten wir zum letzten Mal ein so großes gemeinsames Thema? Fußball-WM (das „Sommermärchen“ und der letztjährige Titel) war ja schon ganz hilfreich. Aber da konnte man nur zugucken und feiern. Aber jetzt kann man gemeinsam und individuell für eine wirklich anspruchsvolle Geschichte konkret etwas tun. Und plötzlich entwickelt sich eine Solidarität, die man kaum für möglich gehalten hätte. Plötzlich ist Mitmenschlichkeit nicht mehr nur was für unverbesserliche Gutmenschen, sondern entwickelt sich zu einem „Volkssport“. Ist das der schon lange ersehnte „Ruck“ durch Deutschland?

Auf der Kontakte-Liste unserer Flüchtlings-Traglufthalle (Notunterkunft) stehen inzwischen über eintausend Namen von Menschen, die bereit sind, ehrenamtlich anzupacken. Die Anfragen von Privatpersonen, die Flüchtlinge auch bei sich zu Hause unterbringen wollen, steigen. (Wobei das ziemlich schwierig zu organisieren ist. Wir arbeiten bei der Stadtmission und auch anderswo an Beratungsangeboten, die solche Hilfsbereitschaft flankieren, damit sie nicht durch Anfängerfehler und schlechte Erfahrungen zum Bumerang wird.) Und die Menschen, die helfen wollen, fragen erst mal nicht danach, ob Polen oder Spanien auch Flüchtlinge aufnimmt. Wenn Europa pennt: wir sind wach! scheint das Gefühl zu sein.

Also, die Flüchlingsaufgabe tut unserem Land gut, nicht nur weil die Industrie- und Handelskammer sich auf zusätzliche Fachkräfte freut.

Allerdings: Die Aufgabe ist riesig und auch bei den weit nach oben korrigierten Zahlen überhaupt noch nicht einzuschätzen. Und: die Hilfsbereitsschaft muss verstetigt werden (und nicht nur ein „Hilfe-Hype“ sein). Aber genau deshalb brauchen wir kein Gejammer, sondern Konzepte, Entschlossenheit und Kreativität.

Das versuchen wir bei der Stadtmission an vielen Stellen. Und unsere inzwischen im Haus Leo (Flüchtlingsheim), in der Traglufthalle und im Refugio gesammelten Erfahrungen werden von vielen abgefragt. So arbeiten wir nicht nur an Beratungsangeboten für Privatpersonen und Gemeinden, sondern auch für Diakonievertreter, Politiker, Behörden usw.

Und die Medien interessieren sich wie gesagt inzwischen sehr für positive Beispiele.

20150718_143005Noch vor der offiziellen Eröffnung des Refugios am 20. September hat allein der Beginn der Wohngemeinschaft von Flüchtlingen und Einheimischen dort eine für uns vollkommen überraschende Menge von Berichterstattungen angelockt, insgesamt schon 14 mal in Presse, Funk, Internet und Fernsehen bis hin zu ARD und ZDF. Den aktuellen Pressespiegel mit vielen Links findet ihr im Blog des Refugio: https://refugioberlin.wordpress.com/pressepress/

Es lohnt sich unbedingt dort mal hineinzuschauen.

Derweil erfordert die Alltagsarbeit (jenseits der Medienbesuche) viel Aufmerksamkeit. Das fängt bei Themen an, die man aus jeder Studenten-WG kennt:

IMG_20150830_134905Wie hält man eine Gemeinschaftsküche in Ordnung mit somalischen, syrischen, afghanischen und deutschen Köchen plus der siebenköpfigen Romafamilie.

Wie organisiert man das Putzen und, dass die Fahrräder nicht im Treppenhaus stehen usw.

Aber auch: Wie konsequent muss man Deutsch miteinander sprechen, an welcher Stelle darf man sich mit Englisch aushelfen? Wie können die Unsicheren ermutigt werden, sich einzubringen? Wie kommen Gaben und Fähigkeiten zum Vorschein? Welche Verbindlichkeit haben Gemeinschaftsaktionen (wie Café-Möbel bauen oder Tagesausflüge machen)? Wie gelingt es, die auch im Haus wohnenden Studenten zu interessieren (und das in den Semesterferien)? Inzwischen gibt es verschiedene Teams, die sich organisieren: Zum Joggen, zum Schachspielen, zum Möbelbauen usw.. Denn neben Sprache lernen sind sinnvolle Aktivitäten und wachsende Freundschaften so wichtig für die (gegenseitige) Integration.

Ganz wichtig aber ist: Gemeinsam kochen und Essen (möglichst auf dem Dachgarten). Und Raum zu bekommen, um die eigenen Geschichten zu erzählen. Immer wieder stoße ich an den unterschiedlichsten Stellen meiner Arbeit darauf, wie entscheidend es ist, dass Menschen ihre Geschichten erzählen können und ihnen zugehört wird: Beim Obdachlosen-Gesprächsfrühstück wie bei der Fortbildung für Mitarbeitende in der Straffälligen Hilfe, beim Kollegen, der aus dem Urlaub zurück kommt (oder auch bei mir selbst in der Situation) wie beim Glaubensgespräch auf dem Refugio-Dachgarten:
In der wöchentlichen „Lectio divina“, einer Mischung aus schweigender Bibelmeditation und Austausch ging es um Epheser 3,16-19, wo die Rede ist von Gottes Kraft in uns und dem Reichtum seiner Liebe, die wir mit unserem Verstand nicht erfassen können. In der zweiten Austauschrunde erzählt einer der syrischen Flüchtlinge (von Hause aus kein Christ): „Die Kraft Gottes hab ich gespürt. Ich bin zwei Stunden im Mittelmeer geschwommen. Und um mich herum war kein Leben. Aber ich wusste, ich werde leben!“ (Das Boot war gekentert, er hatte sich mit einem frühzeitigen, beherzten Sprung ins Wasser gerettet, aber die meisten anderen waren ertrunken, als das Boot umschlug.) So kam er ins helle Deutschland. Und will hier seinen Teil zu dieser Helligkeit beitragen.

Eine letzte Bemerkung: Zum „hellen Deutschland“ gehören sicher auch die 12 jungen Freiwilligen des letzten Jahrgangs, die sich auf folgende, höchst kreative Weise von ihrem FSJ verabschiedet und die Glastüren zur Geschäftsstelle umdekoriert haben .IMG_20150828_083723

Heute sind die neuen gestartet, wieder ein rundes Dutzend junge Erwachsene aus ganz Deutschland (auch aus der Nähe von Köln). Mit dabei auch die Tochter eines alten Freundes aus meiner Ägidienberger Vikariatszeit. Den haben wir voriges Jahr hier in Berlin wiedergetroffen und danach in Frankfurt/Oder besucht. Aber das wäre jetzt wirklich eine andere Geschichte.